In der Corona-Pandemie hat sich nach Angaben von Fachleuten die Zahl der Betroffenen einer Zwangsstörung erheblich gesteigert. Dabei sind vor allem junge Menschen eher betroffenen, die aus Reaktion auf die Kontaktbeschränkungen und das „Home-Schooling“ Verhaltensänderungen entwickelt haben. Oftmals können solche „Tics“ rasch wieder eingefangen werden, wenn eine zügige therapeutische Intervention erfolgt. Gleichermaßen verlaufen viele der Zwangserkrankungen aber auch dauerhaft und führen zu einer massiven Beeinträchtigung der Lebensqualität. Dann stellen sich Eltern oftmals die Frage, wie mit solch einer familiären Belastung umgegangen werden soll – und wie der Betroffene im Erwachsenenalter seine Zweifelskrankheit handhab.
Deshalb veröffentlicht die Selbsthilfegruppe zu Zwängen, Ängsten und Depressionen aktuell einen Betroffenenbericht ihres Sprechers Dennis Riehle (36), welcher mittlerweile seit weit über zwei Jahrzehnten auf seine Zwangsstörung zurückblickt und heute ein recht unverkrampftes Verhältnis zu ihr pflegt:
Dieser Tage ist es ein Vierteljahrhundert her, dass ich erstmals Symptome einer Zwangsstörung in meinem damals pubertären Leben im Alter von 13 Jahren bemerkte – ohne damals je vom Krankheitsbild gehört zu haben oder selbst in der Lage zu sein, meine Beschwerden richtig einordnen zu können. Stattdessen stürzten mich Zähl-, Kontroll- und Waschzwänge in ein großes Chaos: Alltagsbewältigung hieß vor allem, die Zwangshandlungen aus dem schulischen Dasein herauszuhalten – und in der Freizeit mit allen Möglichkeiten der Neutralisation zu versuchen, den damals bereits bestehenden Leidensdruck irgendwie zu senken.
Es dauerte fast zwei Jahre, bis das Kartenhaus in sich zusammenbrach: Meine Mutter hatte schon früh gemerkt, dass mit ihrem Sohn ganz offenkundig etwas nicht stimmt. Schlussendlich ist es dann auch sie gewesen, die nicht mehr mitansehen konnte, wie ich mich selbst kaputtmachte und aus der Spirale von Angst, Sorge und Furcht einerseits, dem Versuch des Abbaus von Stress, Anspannung und Unruhe durch das immer schnellere Rad der Verzweiflung im Angesicht nicht mehr endender Odysseen des stetigen Schrubbens der Hände am Waschbecken, beim Auf- und Zuschließen von Fenstern und Türen oder dem Durchzählen der Pflastersteine auf dem Gehweg andererseits nicht mehr herausfand und mich selbst verlor.
Der Gang zum Jugendpsychotherapeuten, später zum Psychiater, brachte zumindest dahingehend Erleichterung, zu erfahren, dass ich nicht unter einer unentdeckten Erkrankung als einziger Mensch auf dieser Welt litt, sondern an einer Zwangsstörung, die man benennen und definieren konnte – und gegen die es vor allem Hilfe gab. Auch wenn noch zahlreiche Jahre verstrichen und ich mich trotz therapeutischer Intervention in immer neue Handlungen und später auch tief bedrückende und mich an den Rand des Erträglichen bringende Gedanken zu verstricken begann, war die Arbeit an den Auslösefaktoren mit Zeitverzug letztlich erfolgreich.
Während mir die expositorische Verhaltenstherapie nur eine sehr kurzzeitige Linderung eingebracht hatte, dagegen aber das kognitive Training, die Psychoanalyse und das tiefenpsychologische Aufspüren nach der psychodynamischem Wurzel meines Krankheitsbildes mitsamt der eingeleiteten psychopharmakologischen Behandlung schließlich zum Durchbruch geführt hatten und mir zumindest ermöglichten, das Level der ständigen Gereiztheit und Anfälligkeit für obsessives Denken und Agieren zu reduzieren, begann eine Zeit der intensiven Aufarbeitung der Vergangenheit und ein kritisches Hinterfragen von Persönlichkeitsmerkmalen.
Daneben war die endokrinologische und nuklearmedizinische Diagnostik als Ergänzung für einen weiteren Therapieansatz rasch zielführend und komplettierte den Instrumentenkasten, mithilfe dessen ich auch die komorbid auftretende affektive Bipolarerkrankung mit vornehmlich hypomanen und schweren depressiven Phasen, die teils psychotisch anmutenden Momente, dissoziative und psychosomatische Belastungs- und Anpassungsreaktionen sowie die ausgeprägte sozialphobische und generalisierte Angststörung in den Griff bekam.
Es gibt kein einheitliches Konzept zur Herangehensweise an eine Zwangserkrankung. Stattdessen ist die Zusammenstellung unterschiedlicher Elemente an therapeutischen Lehransätzen und Stilrichtungen, einer oftmals langwierig auszuprobierenden Medikation, niederschwelliger Unterstützungsleistungen wie Beratung und Selbsthilfemanualen, reflektorischer Eigenarbeit, mentaler Entschleunigungsmechanismen und mit Sicherheit eine ausdauernde Geduld mit einem tragenden und seelsorgenden Umfeld vonnöten.
Rasch wurde klar, dass aufgrund der Heftigkeit meiner Zwangsstörung und der sich über Jahre hinziehenden Therapien von einem chronifizierten Verlauf ausgegangen werden musste. Natürlich stellte auch ich mir wiederkehrend die Frage nach einer möglichen Heilung. Gleichermaßen befasste ich mich aber relativ früh mit der Option, dass zwar eine bedeutsame Linderung der Erkrankung denkbar sein würde, aber eine vollständige Remission eher unwahrscheinlich erscheinen dürfte. Auch diese Erkenntnis ist nicht repräsentativ, denn ich weiß von vielen Mitbetroffenen, die sehr zügig auf eine Therapie angesprochen haben und sehr schnell auf die ersten Symptome reagierten – und heute objektiv gesehen zwangsfrei sind.
Nein, der Zwang und ich sind bis jetzt keine Freunde geworden. Und ich glaube auch, dass dies der falsche Ansatz wäre. Ich bin überzeugt: Man sollte eine Erkrankung an sich annehmen, gleichzeitig den aus ihr resultierenden Zustand aber nicht als gegeben und unveränderbar ansehen und akzeptieren. Denn gerade die Zwangsstörung ist eine stets dynamische Sache, welche sich durch den Betroffenen gut in Schach halten lässt. Es wäre also sicherlich schade, sich mit der Krankheit einfach nur abzufinden und zu resignieren. An meinem Beispiel lässt sich stellvertretend für viele Verläufe verdeutlichen, dass eine erhebliche Rückläufigkeit der Symptomatik möglich ist. Gemessen an den schlimmsten Momenten meiner Erkrankung verzeichne ich ein Abflauen meiner Handlungen und Gedanken um mindestens 60 Prozent.
Wir sind dem Zwang nicht ausgeliefert, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Schlussendlich ist er nur ein Schelm in unserem Kopf, der uns vorzuführen versucht und uns durch beständiges Zweifeln auf mangelndes Selbstbewusstsein, eine instabile Persönlichkeit und nicht zuletzt auf unbearbeitete Baustellen in unserem Leben aufmerksam macht. Unbestritten war es kein Vergnügen, im Komposthaufen der eigenen Biografie zu wühlen. Allerdings wurde dem Zwang erst dadurch seine Zweck- und Sinnhaftigkeit entzogen. Wenngleich es komisch klingen mag: Ein wenig bin ich ihm sogar dankbar für seine eindeutigen Hinweise auf die Ungereimtheiten in meiner Existenz – allerdings hätte er durchaus etwas sanftmütiger und feinfühliger vorgehen können. Ja, das werfe ich ihm durchaus vor.
Die Zwangserkrankung ist sicherlich übertrieben, aber nicht unnötig. Zu dieser Einsicht bin ich in 25 Jahren Betroffenheit gelangt. Ich habe mich zu einer friedlichen Koexistenz mit ihr entschieden und beschlossen, dass ich nicht mehr im Grunde nach gegen sie angehen und einen täglichen Kampf führen möchte. Stattdessen hat sich eine Balance herausgearbeitet, welche nicht zuletzt auf dem Umstand fußt, dass der Zwang mittlerweile ein Eigenleben entwickelt hat, welches ich gut einzuschätzen weiß. Er hat seine Unzuverlässigkeit und Spontanität verloren, übermannt mich nicht mehr ungebetenerweise und wurde insofern erfolgreich von mir demaskiert, als dass er nicht mehr die Regie führt.
Das Drehbuch habe ich in meine eigenen Hände genommen und bestimme wesentlich mit, inwieweit er sich noch in den Alltag einmischt. Anzeichen aufkommender Zwangsphasen zu erkennen und sich einen individuellen Notfallkoffer zurechtzulegen, mit dem wir ihr Aufziehen am Horizont rechtzeitig erkennen und reagieren können: Das Zurückgewinnen der Eigenverantwortung als Teil der persönlichen und freien Selbstbestimmung ist für mich sicherlich das wesentliche Ziel gewesen. Ein Vertragsabschluss mit dem Zwang über ein Nebeneinander, das sich annehmen lässt – hierauf haben wir uns verständigt und die Hand eingeschlagen. Unser Dasein ist wohl immer nur ein Kompromiss – vielleicht gelingt er auch anderen Betroffenen…