Die Angst, die Hartherzigkeit und die Liebe

Bereits zu Beginn der Corona-Krise schrieb der bekannte italienische Philosoph Giorgio Agamben, dass wir die Grenze zur Barbarei überschritten hätten, ohne es zu merken. Das Indiz, das ihn zu dieser Feststellung führte, waren die Kontaktverbote zu Alten und Sterbenden. So etwas hätte es in der Menschheits- und Zivilisationsgeschichte noch nie gegeben, meinte Agamben.

Seither ist ein dreiviertel Jahr vergangen und wir können sicher sein, dass viele Menschen allein und nicht wenige von ihnen vor Einsamkeit gestorben sind. Verwandte, Freunde und manchmal engste Familienmitglieder sind in der Folge nicht zu Beerdigungen gegangen, haben die einsam Gestorbenen auch auf dem letzten Gang allein gelassen. Und viele Menschen schauten und schauen immer noch weg.

 

Wie anders denn als hartherzig lässt sich so ein Verhalten bezeichnen? Sicherlich ist auch Gehorsam mit dabei, die behördlichen Zwangsvorgaben müssen, oft vorauseilend, befolgt werden. Aber ein weiches, lebendiges Herz würde nicht wegschauen und wäre nicht in erster Linie gehorsam. Es würde dem Impuls folgen, zu lieben und Trost zu spenden, und es wäre traumatisiert, wenn es das nicht tun könnte. Wie also kommt es zu diesem harten Herzen und hartherzigen Verhalten? Wie war das – und wie ist das immer noch – möglich? Warum lassen wir das zu? Schnelle Antworten verbieten sich, aber diese Fragen dürfen uns nicht in Ruhe lassen.

 

Hunger, Krieg, Folter, Unterdrückung könnten reale traumatisierende Gründe dafür sein, das Herz zu verschließen vor dem Leid, das wir den alten und anderen Menschen antun. Doch all das gibt es nicht in einem reichen, gesättigten Land wie dem unseren. Trotzdem hören wir täglich und stündlich aus unzähligen Kanälen, dass Gefahr für Leib und Leben bestehe und die Abwendung dieser Gefahr nach ungewöhnlichen und zum Teil unmenschlichen Mitteln verlange. Auch wenn wir uns nicht in einem realen Krieg befinden, ist die Angst vor Viren, die medial verbreitet wird, so groß und so traumatisierend wie in einem Krieg. Und das bedeutet: Die Angst ist bereits der Krieg.

 

Der Krieg gegen Viren wird in unseren Köpfen, oder vielmehr in unseren Herzen geführt. Und das schwerste Geschütz, das aufgefahren wird, ist die Angst. Es ist eine ausgefeilte Technologie der Angst, die es geschafft hat, die Herzen so vieler Menschen zu besetzen und hart werden zu lassen.

Der Verstand hätte davor schützen können – das kritische Nachfragen, das Suchen nach Erklärungsmöglichkeiten, das tiefere Verstehenwollen. Der Verstand kann vor Verführung schützen, aber nur, wenn er nicht abgespalten, sondern mit dem Herzen verbunden ist.

 

 

Diese Verbundenheit ist in der Wissenschaft nicht unbedingt notwendig. Der wissenschaftliche Verstand kann Atombomben bauen, auch lässt er sich zuweilen von Pseudowissenschaftlichkeit blenden. Aber das Herz schützen kann er offensichtlich nicht.

 

Ein mit dem Herzen verbundener, gesunder Menschenverstand hingegen kann schützen. Und so könnte es sein, dass es der Mangel an gesundem Menschenverstand ist, der die Herzen vieler Menschen einer Wissenschaft und Politik ausliefert, die mit Hypothesen hantiert und durch unaufhörliche mediale Propagierung einer Gefahr dazu verführt, in diesen Krieg gegen Viren zu ziehen. Da das Virus jedoch nur in Symbiose mit dem Menschen existieren kann, wird jede*r Nächste, auch der alte und sterbende Mensch, zum Kriegsgegner. Und alle wissen: Feinden gegenüber ein weiches Herz zu haben, kann den eigenen Tod bedeuten.

 

Es wäre wohl das Ende der Geschichte, aus der es keinen Ausweg gibt. Wäre da nicht dieses im Letzten unergründliche Phänomen der Liebe, das man auch Verbundenheit nennen könnte. Genau wie die Angst kann die Liebe den abgespaltenen Verstand umgehen, wenn sie stark genug ist, und sie kann das Herz erweichen, wenn sie beständig ist. Die Liebe kann ein Ausweg sein, denn sie verbindet die Generationen, die Geschlechter, die Menschen. Sie trägt diejenigen, denen die Angst nicht das Herz verhärten konnte, und sie zieht die Hoffnung an und lässt sie nicht los. Mehr noch, sie vermehrt sich im Teilen. In ihrer Form als Verbundenheit, Friedlichkeit und Beständigkeit kann die Liebe den Weg aus dem Dilemma weisen. Dieser Weg wird seit Beginn des Jahres in der friedlichen Protestbewegung gegen die Corona-Maßnahmen von Menschen aus allen Bevölkerungsschichten gegangen. Die Liebe und Verbundenheit, die sich in dieser Bewegung über alle individuellen Unterschiede hinweg zeigt, kann auch ein gesamtgesellschaftlicher Ausweg sein, wenn sie von Menschen beständig gelebt, geteilt und vermehrt wird.

 

Demnach sollte sie, in welcher Form auch immer, das Herzstück eines jeden Programms sein, das nicht nur einen Ausweg aus diesem Krieg und dieser Krise zum Ziel hat. Mit Liebe und Verbundenheit gilt es, die Grenze der Barbarei nun wieder in die andere Richtung und auf einer höheren Ebene zu überschreiten, hin zu einem Zusammenleben, das die Heilung des Traumas, die Überwindung der Spaltung und eine Zukunft in Würde und Freiheit ermöglicht.

 

 

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