Wie tief muss man sich verbeugen?

(ddp direct) An der Universität Vechta fand am 5. und 6. September eine internationale Tagung zum Thema Interkulturelle Ritualpraxis. Europa und der Osten statt. Veranstalter war das Fach Geschichte am Institut für Geistes- und Kulturwissenschaften unter Leitung von Prof. Dr. Claudia Garnier und Prof. Dr. Christine Vogel. Wissenschaftler aus Deutschland, Großbritannien, Österreich und Frankreich gingen in Vechta der Frage nach, welche Rolle Rituale im interkulturellen Austausch spielten. Es ging dabei vor allem um das Verhalten von Gesandten und Diplomaten, die an fremden Höfen zu Gast waren und sich in das dortige fremde Zeremoniell integrieren mussten. Wie wurden sie empfangen? Wie begrüßten sie ihre Gastgeber? Wie bewältigten sie kulturelle Brüche? Wie wurden eventuelle Missverständnisse vermieden? Im Zentrum stand dabei vor allem der diplomatische Austausch zwischen west- und mitteleuropäischen Monarchien einerseits und dem Moskauer Reich sowie dem Osmanischen Reich andererseits.

Der Fokus der Tagung lag auf der Zeit zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert – das Thema ist aber auch in der Gegenwart von zentraler Bedeutung. Vor allem vor dem Hintergrund der aktuellen Globalisierung spielt es eine wichtige Rolle, wie Angehörige unterschiedlicher Kulturen über Grenzen hinweg eine gemeinsame Verständigungsebene schaffen. Dies gilt nicht nur für die Sprache, sondern auch für Zeichen und Rituale. So existieren symbolische Ausdrucksformen, die weltweit verständlich sind. Andere Gesten hingegen können nicht ohne Bedeutungsverlust oder Missverständnisse auf andere Kulturen übertragen werden. Wie Gesandte in der Vormoderne diese Klippen umschifften war eine zentrale Frage der Tagung.

Aufgrund der kulturellen Unterschiede griffen Gesandte in der Fremde zunächst auf Zeichen zurück, die über Grenzen hinweg verständlich waren. Ein gemeinsames Mahl wurde und wird in allen Gemeinschaften als Signal des Friedens und der Freundschaft interpretiert. Im habsburgisch-osmanischen Grenzverkehr etwa bewirteten sich die Gesandten gegenseitig mit Kaffee und Konfekt. Ebenso gilt und galt der Spruch, dass Geschenke die Freundschaft erhalten. So besaßen Gaben im diplomatischen Austausch eine wichtige Funktion, um sich des guten Einvernehmens zu versichern. Doch während etwa Silbergeschenke im Osmanischen Reich sofort eingeschmolzen wurden, quellen noch heute die Bestände des Moskauer Kremls schier über vor wertvollen Pretiosen, die den Großfürsten und Zaren im Laufe der Jahrhunderte zugedacht wurden. Die Geschenke lieferten jedoch auch wichtige Informationen über den Geber: So schenkte die englische Königin Elisabeth I. dem Sultan eine wertvolle Orgel und wies damit gleichzeitig auf die technologische Überlegenheit ihres Reichs hin. Ähnliche Absichten verfolgte auch ein Botschafter Ludwigs XIV. in Konstantinopel: Indem er in seiner Residenz einen prachtvollen Festzug ausrichten ließ, präsentierte er dem staunenden Publikum Macht und Glanz des Sonnenkönigs.

An den fremden Höfen wurden den Gesandten vor allem Zeichen der Ehrerbietung abverlangt. So stellten das Ziehen des Huts, eine Verneigung oder das Entgegengehen zwar in allen Gesellschaften eine Geste der Reverenz dar. Doch im Einzelfall variierte die genaue Ausgestaltung. Wann musste der Hut gelüftet werden? Wie tief hatte sich der Gesandte zu verneigen? Die Verbeugung selbst war Element eines interkulturell verständlichen Codex. Wann sich allerdings, wer, in welcher Situation, wie tief zu verbeugen hatte, entsprach regionalen Gepflogenheiten.

Die entscheidende Leistungskraft der Rituale bestand im diplomatischen Alltag darin, dass sie dynamisch veränderbar waren und somit flexibel auf neue Herausforderungen reagieren konnten. Zumeist konnten die Einzelheiten ausgehandelt werden und damit den veränderten politischen Situationen Rechnung tragen. Zudem konnte ein und dieselbe äußere Form von den Beteiligten unterschiedlich interpretiert werden. Ein Geschenk konnte etwa von der einen Partei als Tribut, von der anderen als eine freiwillige Ehrengabe gedeutet werden. Indem jeder der Beteiligten das Ritual in seinem Sinne auslegen und in sein Wertesystem integrieren konnte, ebnete diese Mehrdeutigkeit den Weg für ein friedfertiges Miteinander.

Was sich dem modernen Betrachter auf den ersten Blick als Ringen um nichtige Kleinigkeiten darstellt, war für die Beteiligten ein Vorgang von höchster politischer Brisanz: Wer sich tiefer verneigte oder eher den Hut zog, ehrte sein Gegenüber und attestierte ihm damit einen höheren Rang. Im Gegensatz zur Gegenwart konstituierten diese rituellen Ausdruckformen die politische Realität. Daher stellte das diplomatische Kräftemessen um den zeremoniellen Vorrang keine bloße Spielerei dar, sondern es war Ausdruck ernsthafter Bemühungen um politische Dominanz.

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