Über gesellschaftliche Seismographen und kulturelle Wurmlöcher. Ein Gespräch mit dem Soziologen Dr. Sacha Szabo.
Was können die Kulturwissenschaften leisten. Wir sprachen darüber mit dem Freiburger Soziologen und Unterhaltungswissenschaftler Sacha Szabo , der für das Institut für Theoriekultur Alltagsphänomene untersucht und dabei mittels der Sozioanalyse die Entdeckung gemacht hat, dass die scheinbar banalen Dinge eine Art Wurmloch ins Außeralltägliche sein können. Wir sprachen mit ihm über das Unheimliche des Alltags.
Was ist Sozioanalyse?
Sacha Szabo: So wie sich die Psychoanalyse mit dem Unbewussten einer Person beschäftigt, so beschäftigt sich Sozioanalyse mit dem Unbewussten einer Gesellschaft. Bei beiden entstehen durch das Unbewusste bestimmte Phänomene. Diese sind Anlass sich mit dem Unbewussten zu beschäftigen. Viele der Dinge, die uns täglich umgeben scheinen banal, scheinen trivial. Dennoch üben sie einen Reiz aus, denn sonst würden sie ja nicht angefragt werden. Gerade weil viele der Phänomene so selbstverständlich sind, werden sie nicht hinterfragt. Dabei ist diese lebendige Kultur, die uns täglich umgibt existentiell, denn sie gibt uns Auskunft über unsere aktuellen Bedürfnisse. Die Themen mit denen sich die Sozioanalyse beschäftigt sind in erster Linie alltägliche. Dabei ist der Begriff des Alltäglichen nur in Korrespondenz zum Außeralltäglichen zu denken. Dabei geht es nicht um den Unterschied zwischen dem Normalen und dem Besonderen, sondern das Außeralltägliche ist ein semantischer Komplementärbegriff. Viele der alltäglichen Dinge haben das Potential einen außeralltäglichen Raum zu öffnen. Dies ist ein Raum ohne Sorgen. Der Mensch zeichnet sich durch ein reflexives Bewusstsein aus, er weiß dass er ist. Dies zeichnet ihn gegenüber dem Tier aus. Das Tier muss nicht wissen, dass es ist. Es benötigt dieses Wissen nicht. Der Mensch hat dieses Wissen ausgebildet, da er im Unterschied zu den meisten Tieren kein Spezialist ist. Er hat keinen Schnabel um Nüsse aufzupicken, er kann nicht besonders gut klettern, wie ein Affe. Er ist ein Generalist, er kann alles ein wenig. Seine biologische Besonderheit ist nun der aufrechte Gang, der zu einer Vergrößerung des Gehirns führt. Ein veränderter Kehlkopf der Sprechen erlaubt und dass er einen opponierenden Daumen hat. Er kann Dinge in die Hand nehmen, er kann sie begreifen. Damit ist die Voraussetzung geschaffen, dass er Pläne macht wie der die Dinge anwendet. Mit der Vorstellung beginnt das reflexive Bewusstsein. Er beginnt, sich selbst sich vorzustellen. Er weiß, dass er ist. Damit kommen auch die anthropologischen Kränkungen auf, das Wissen um die Verletzlichkeit und das Wissen um Sterblichkeit, also die Kardinalssorgen. Mythologisch kann dies als die Vertreibung aus dem Paradies beschrieben werden.
Vertreibung aus dem Paradies?
Sacha Szabo: Ab dem Zeitpunkt, ab dem der Mensch sich seiner selbst bewusst wird entsteht Kultur. Das reflexive Bewusstsein, also dass der Mensch weiß, dass er ein Mensch ist, unterscheidet ihn von den meisten Tieren. Kultur ist also etwas, das sich gemäß der naturhaften Verfasstheit des Menschen aus der Natur bildet. Dabei unterscheiden sich Natur und Kultur, wie dies Max Weber ausgeführt hat dadurch, dass Kultur durch eine symbolische Ordnung, also von Sinn durchzogen ist. Ob Natur von sich aus grundsätzlich sinnvoll ist, ist eine Frage ohne jede Relevanz. Sinn bedarf es nur im Hinblick auf ein Operieren in Sinnkontexten. Das reflexive Bewusstsein verändert auch die Wahrnehmung des Menschen. Lebt er im Naturzustand ganz in einer fortdauernden Gegenwart, so ist er als kulturelles Wesen in der Lage Zeitlichkeit wahrzunehmen. Jede Ordnung ordnet in ein Davor und Danach. Diese Ordnung trägt auch zur seelischen Verfassung des Menschen bei. Ein Davor kann als schuldvoll empfunden werden, weil man eine Entscheidung getroffen hat, die sich im Nachhinein als schwer zu tragen herausgestellt hat. Die Vorstellung von Zukunft als potentiell offen, birgt die Angst in sich, was von all den Möglichkeiten nun die ist, die eintritt. Der Zustand von Angst und Sorge existiert in der Vorstellung und diese Vorstellung gibt auch die Koordinaten vor, innerhalb dessen ein Mensch sein Sinnordnungssystem errichtet. Dies ist die Überformung des Menschen durch Kultur. Allerdings distanziert sich der Mensch durch diesen Prozess von seiner Ursprünglichkeit. Das Tier-Sein des Menschen wird durch die Kultur wie durch einen Vorhang getrennt. Allerdings hat der Mensch zugleich das Bedürfnis sich seiner Natur zu exponieren, denn dies ist es was ihn lebendig hält. Die Erfahrung seiner Naturhaftigkeit ist die Erfahrung von Wirklichkeit. Diese Expositionen sind allerdings immer nur temporär. Denn durch seine Fähigkeit des reflexiven Bewusstseins verliert er zugleich die Fähigkeit sich dauerhaft seiner Natur zu stellen. Es überwältigt ihn und wird traumatisch. Lacan nennt dies das “Reale”. Dieses Wechselverhältnis von Exposition und Integration zeichnet den Menschen aus. Damit dies möglich ist gibt es innerhalb der Kultur Wurmlöcher, innerhalb dessen sich der Mensch seiner Naturhaftigkeit aussetzen kann und dann – kontrolliert – in den kulturellen Bereich zurückkehrt. Er bringt dabei Erlebnisse mit, die dann in die Kultur integriert werden und dabei das Wurmloch weiter ausdifferenzieren und anwachsen lassen. Der Mensch bringt also aus diesen Reisen durch die Wurmlöcher Energie mit, um sich als kulturelles Wesen am Leben zu erhalten.
Wurmlöcher?
Sacha Szabo: Diese Wurmlöcher sind immer auch soziale Ereignisse, denn an diesen Orten, an denen sich diese Wurmlöcher bilden, kristallisiert sich Soziales. Andere Menschen mit dem gleichen Bedürfnis tun ähnliches, tauschen sich aus und bilden Rituale. Dies schützt auch den Einzelnen davor nicht mehr von dieser Reise zu seiner Naturhaftigkeit zurückzukehren. Er wird flankiert von einer Gemeinschaft. Diese wiederum legitimiert sich durch ihre Nähe zu einem bestimmten Erlebnis. Diese Erlebnisse selbst wiederum verändern sich beständig. Neue Wurmlöcher entstehen, alte verlieren ihre Attraktivität und so gibt die Struktur jedes Wurmlochs Auskunft über die Verfasstheit der jeweiligen Gemeinschaft. Jedes Wurmloch ist ein funktionierender Seismograph der zeigt, welche Bedürfnisse zu welcher Zeit von Menschen gestillt werden müssen. So lassen sich nicht nur Traditionen erklären, sondern auch Trends erläutern. Jedes Phänomen hat das Potential ein Wurmloch ins Außeralltägliche zu sein. Manche sind kurzlebig, manche langlebig. Um manche bilden sich große Gemeinschaften, manche bleiben eine kleine. Das augenscheinlichste Wurmloch ist die Religion, aber daneben gibt es noch viele ganz unterschiedliche Gemeinschaftsangebote die sehr präsent sind. Etwa die räumlichen, die Dorfgemeinschaft oder die Nation. Alle diese Institutionen haben das Potential den Menschen aus dem Alltag zu katapultieren. Wenn nun diese Intuitionen nicht mehr tragfähig sind, dann entstehen neue. Wie etwa ein Trend. Natürlich braucht der Mensch als naturhaftes Wesen, also bevor er mit einem reflexiven Bewusstsein ausgestattet war, weder Kirche noch einen aktuellen Trend. Da er aber nun mit solch einem ausgestattet ist sehnt er sich danach, für einen kurzen Moment den Alltag zu vergessen. Jede Institution ist auch daran interessiert sich zu verdauern. Sie akkumuliert und steht in Konkurrenz zu anderen Institutionen. Das Verhältnis von Staat und Religion ist bis heute ein Spannungsverhältnis. Beide wiederum stehen in einem Spannungsverhältnis zu Trends. Denn jede dieser Institutionen setzt das Erlebnis anderer Institutionen herab. Für alle aber gilt das Streben nach Selbsterhalt. Denn, wenn ein Wurmloch nicht mehr genutzt wird, dann verliert es seine Energie, seine Attraktivität, die nun auf andere übergeht. Diese Kartierung der Wurmlöcher zeichnet nun ein Bild der aktuell lebendigen Kultur. Auf dieser Grundlage kann man Diagnosen für eine Gesellschaft erstellen. Darüber hinaus ist für Sozioanalytiker von grundlegendem Interesse, was all diesen Institutionen zugrunde liegt. Was sind die Gemeinsamkeiten, wo liegen die Unterschiede und wie ist die Architektur jedes dieser Wurmlöcher angelegt.
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