“Ich habe immer mal wieder gesagt: Hebt euch bitte die Fragen, die ihr habt, gut auf. Vergesst sie nicht, auch wenn alles irgendwann gut gegangen ist für euch. Wir müssen die Freiheit haben, nach der Geltung dieser Bedingungen und Regelungen, die es gibt, zu fragen. An die, die es zu verantworten hatten. Nicht um sie nieder zu machen, gar nicht. Sondern um zu lernen, wie mit solchen Situationen zukünftig umgegangen werden muss.”
Peter, 65 Jahre, Beauftragter für Migration und interreligiösen Dialog, Pfarrer
Zwei Jahre Corona-Pandemie liegen hinter uns. Mit welchen Gefühlen sind wir durch diese Zeit gegangen? Welche Erfahrungen haben wir gemacht und mit welchen Problemen haben wir seitdem zu kämpfen? Werden wir uns in ein paar Jahren noch an diese Zeit erinnern? Wenn ja, was bleibt davon zurück? Und vor allem: Was können wir für die Zukunft aus unser aller Erfahrungen lernen?
Aus diesen Fragen heraus entstand die Idee zum Projekt PERSPEKTIVWECHSEL CORONA. Die Leipziger Autorin und Dokumentarfilmerin Nancy Brandt hat hierfür schon im Winter/Frühjahr 2021 Menschen verschiedener Herkunft, Berufe und Alters aus Leipzig, Halle und der näheren Umgebung zu ihren Erfahrungen in der Pandemiezeit befragt. Sie porträtierte die TeilnehmerInnen zudem an Orten, die für sie in dieser Zeit eine besondere oder neue Bedeutung bekommen haben.
Für die digitale Lesung auf der Website perspektivwechsel-corona.de haben Sprecher und Sprecherinnen aus der Region Halle/Leipzig Auszüge aus den unterschiedlichen Gesprächen eingesprochen und auf ihre eigene Art und Weise interpretiert. Mittlerweile sind diese Texte jetzt schon zu zeithistorischen Dokumenten geworden. Das daraus entstandene digitale „Tagebuch der Gesellschaft“ bietet die Möglichkeit, kurz auf den Pausenknopf zu drücken, innezuhalten, unterschiedliche Blickwinkel einzunehmen, in Gedanken zu verweilen und sich selbst zu erinnern. Die ausgewählten Personen spiegeln jedoch nur die Perspektiven eines Teils der Gesellschaft wider. Es bleiben bewusst Lücken. Doch sie geben uns eine Ahnung davon, wie unterschiedlich diese Zeit wahrgenommen wurde. Einige haben die Zeit genutzt, ihr Leben zu ändern. Für viele war es eine Zeit des Verlustes und der Angst. Für manche brachte sie ein Aufatmen und zur Ruhe kommen. Andere haben ganz normal weitergelebt. Und doch gibt es auch wiederkehrende Aussagen, in denen Einigkeit hervorscheint, sei es denn bei dem Wunsch nach mehr Solidarität oder einem besseren Umweltbewusstsein.
Zusätzlich zur digitalen Lesung sind auch zwei analoge Bildbände mit den vollständigen Gesprächen der Autorin erschienen, die neben den gelesenen Auszügen noch 18 weitere Interviews mit Fotografien enthalten.
PERSPEKTIVWECHSEL CORONA ist jedoch kein abgeschlossenes Projekt, sondern ruft bewusst zum Mitmachen auf! Es braucht eine Plattform oder digitales Archiv, in denen die Menschen ihre Erfahrungen miteinander teilen können, damit die zukünftige Generation darauf zurückgreifen kann. Diesen Platz möchte die Website zur Verfügung stellen.
Credits Interviews/Regie/Buch Transkription Lea Sauerbaum Lektorat Jasmin Simon Studio Radio Blau
| Sprecher und Sprecherinnen Annabel Bayer
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Das Projekt entstand durch das Denkzeit-Stipendium der Kulturstiftung Sachsen, der finanziellen Unterstützung durch das Kulturamt Leipzig und in Kooperation mit Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen.
Weitere Zitate:
So ein Dreijähriger braucht einfach Beschäftigung. Und das ging bei mir hart an die Grenzen und an die Stärke der Nerven. Da habe ich auch erstmal Respekt dafür bekommen, was so eine Erzieherin den ganzen Tag mit dem Kind stemmen muss.
Rebekka, 43, Schauspielerin
Moria oder die Aktion „Leave No One Behind“ waren vielleicht noch die einzigen zwei Sachen, die Corona in irgendeiner Hinsicht in den Nachrichten Konkurrenz machen konnten. Und auch das haben ja viele nicht mitbekommen. Im ersten Lockdown hatte ich das Gefühl, dass die Menschenrechtsarbeit nicht mehr wirklich wahrgenommen wurde. Ohne Corona hätte man da
deutlich mehr erreichen können.
Peer, 30, Betriebsleiter, Student
In der Beratung ist es dann fast ein bisschen schizophren gewesen. Durch das Herunterfahren aller Prozesse sind ja auch die Abschiebungsbeschlüsse ausgesetzt worden. Die Überstellung
in andere Länder war nicht möglich. Da hatten die Flüchtlinge plötzlich Luft.
Peter, 65, Beauftragter für Migration und interreligiösen Dialog, Pfarrer
Dann kam der Frühling und ich konnte es manchmal nicht fassen, wie gut es uns gerade geht. Vor allem, weil es in einem so krassen Kontrast zu den täglichen Nachrichten stand. Ich hatte manchmal ein richtig schlechtes Gewissen, dass wir diese Zeit so genießen konnten.
Katharina, 40, PR-Expertin & Landwirtin
Wir leben hier im goldenen Käfig. In der Türkei bekommen die Menschen auch gar keine Informationen. Keiner weiß, was ist und wie es weiter gehen wird.
Musiker, 45
Wir müssen wirklich gucken, dass wir die Jugendlichen in dieser Zeit nicht verlieren. Einige sagen uns ganz direkt: „Ich hänge wieder mit den falschen Leuten rum und weiß aber nicht, mit wem ich sonst Zeit verbringen soll. Es tut mir eigentlich nicht gut. Aber irgendwie sehe ich auch gerade keine Alternative, weil ihr nicht aufhabt.“
Johanna, 30, Sozialarbeiterin
Für mich war der erste Lockdown und mein Abitur das Beste, was mir hätte passieren können. Und auch wenn das total komisch klingt, aber das Jahr 2020 hat mich einfach glücklich gemacht.
Rika, 19, FSJlerin
Es gab jeden Tag neue Meldungen von den Fachgesellschaften und über das Fernsehen, diese permanente Konfrontation mit Überinformation und wer alles glaubte, da eine Expertenmeinung zu haben. Ich habe dann irgendwann ausgeschaltet und keine Nachrichten mehr geschaut. Mit dem Wissen, was ich fachlich habe, und das, was da ständig über den Kanal lief, fand ich das schon sehr Panik verursachend. Das war nicht gut.
Anja, 49, Oberärztin für Anästhesie und Palliativmedizin
Und dann kommen die Angehörigen, die plötzlich mit einem Wahnsinnsanspruch auf einen
zurollen. Leute, die man vorher gar nicht kannte, weil sie nie zu Besuch kamen, die aber jetzt plötzlich durch Berichte in den Medien aufgeschreckt wurden. Wir sind in zweifacher Sicht ein relativ gläsernes Haus. Jedes Altenpflegeheim hat riesengroße Glasfronten, das heißt, sie können von draußen reinschauen. Man wird dann beschuldigt, jemanden stehengelassen zu haben und so. Das ist nicht sehr schön.
Dorothea, 63, Heimleiterin in der Altenpflege
Beim zweiten Lockdown gab‘s dann Gerüchte, dass wir gar kein Geld bekommen. Gottseidank war es nicht so, aber trotzdem bin ich seitdem im Sparmodus und ich lege mein Geld immer ein bisschen zurück … Es gibt keine Sicherheit mehr. Das ist der Punkt. Ich habe zwei Kinder und auch wenn sie schon ziemlich groß sind, muss ich die unterhalten, sonst macht das keiner. Es gibt Nächte, wo ich nicht schlafen kann, weil ich nervös bin.
Svetlana, 57, Tagesmutter
Ich ziehe aus der Zeit definitiv Konsequenzen. Es hat sich in der Krise – und weil ich mich dann auch mit den Zahlen nochmal stärker beschäftigt habe – gezeigt, was ich schon die ganze Zeit auf dem Schirm hatte: Nämlich, dass die Gastronomie viel zu billig ist und dass wir das alles letzten Endes damit bezahlen, dass wir an allen Ecken und Enden sparen. Wir haben uns viel zu weit runtergedrückt und mein Anspruch und mein Ziel ist jetzt: Die Gastronomie muss teurer werden und die Gäste müssen das auch akzeptieren.
Thomas, 52, Künstler und Gastronom
Was für mich schlimm ist, ist, dass es nur ein Lockdown im Privatem gibt. Ich bin als Elektrotechniker ja systemrelevant und im Dienstlichen gibt es keinen Lockdown. Aber die Regeln sollten eigentlich überall gelten. Warum wird immer nur vom Privaten gesprochen? Das
frage ich mich. Ich kann mir das nicht erklären, weil ich dienstlich mit so vielen Leuten in Kontakt stehe.
Maik, 37, Elektrotechniker
Vorher habe ich gedacht, dass wir in China zuerst an andere oder an die gemeinsame Verbindung denken, wäre ein Nachteil. Aber jetzt in der Pandemie denke ich, dass man nicht sagen kann, ob das ein Nachteil oder Vorteil ist. Wenn ich diese Demos gegen die Maßnahmen sehe und die Berichte lese – zehntausende Leute letztes Wochenende in Kassel –, das finde ich furchtbar. Die sagen: „Ich habe keine Angst vorm Virus, ist doch egal, ist nur wie eine Grippe.“ Aber denkst du an deine Nachbarn oder an Oma und Opa? Ich finde das schrecklich.
Jing, 35, Journalistin
Im letzten Jahr hatten wir jedoch coronabedingt einen enormen Anstieg der Geldmenge und einen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes. Das ist natürlich ein Problem für alle, die Vermögen haben. Das ist in fast allen Gesprächen jetzt Thema und wird es auch zukünftig noch sein. Also Fragen wie: Wie werden die Schulden, die jetzt aufgenommen wurden, mal wieder beglichen? Müssen sie beglichen werden? Oder haben wir einfach eine enorme Entwertung des Geldes? Das könnte auf uns zukommen.
Katharina, 41, Kundenberaterin für vermögende Privatkunden bei einer Bank
Wir haben auf verschiedenen Ebenen Papiere erarbeitet und an die Ministerien geschickt. Die sind nicht zu Rate gezogen worden. Ganz viel Planung und Entscheidungen haben stattgefunden, ohne dass die Menschen, die damit umgehen müssen und die Leidtragenden sind, gefragt wurden, ob das überhaupt passt. Wenn jemand, der Verwaltung studiert hat, entscheiden soll, wie die Abläufe in einem Club an der Tür zu handhaben sind, dann kann das logischerweise nicht funktionieren.
Katrin, 44, Geschäftsführerin in einem großen Kulturbetrieb
Es nicht gut ist, sich zu sehr mit Dingen oder mit Gegenständen, mit Gebäuden zu identifizieren. Man sollte sich nur mit sich selbst identifizieren. Es ist aber hier im Tanzstudio passiert, so über die Jahre hinweg und über die Projekte, die ich hier gemacht habe. Und da sind wir an einem kritischen Punkt, weil das dann eine Art Depression auslöst, weil ich das Gefühl habe, dass, wenn das alles nicht mehr da wäre, ich mich auch auflösen würde. Das ist natürlich Quatsch. Aber man kommt in so ein Gefühl rein, von so einer Aussichtslosigkeit. Und das löst bei mir dann auch Gedanken aus wie: Okay, dann kann ich‘s auch ganz lassen. Was bleibt denn dann noch? Also das geht schon tief runter.
Konstantin, 54, Choreograf und Inhaber eines Tanzstudios
Was auch zugenommen hat, wo aber fast nichts durchsickert, ist die Selbstmordrate. Eine gleichaltrige Kollegin, die ich kannte, hat sich das Leben genommen. Und sehr viele ältere Menschen bringen sich um. Die meisten dieser Menschen sind auch allein, viele erhängen sich. Überall – zu Hause, in der Gartenanlage, im Wald. Eine Bekannte so eines Falles hat erzählt, dass der Beamte von der Kriminalpolizei ihr gesagt hat, dass es seit Dezember ganz schlimm sei.
Heidi, 60 Ärztin im Qualitätsmanagement
Wir schauen viel Nachrichten. Ich wage kein Urteil darüber zu fällen, was verkehrt ist oder nicht. Es ist eine schlimme Krankheit und das verändert uns und bedrückt uns auch sehr. Ich glaube, ich habe noch nie so viel geheult wie hier. Das Zimmer ist ja auch klein. Wir können uns nicht viel bewegen. Auf der anderen Station gab es einen Bewohner, der über hundert Jahre alt war. Der ist im Zimmer hin- und hergelaufen und hat eifrig geübt, um sich fit zu halten. Ich habe das dann auch versucht. Aber so eine Energie habe ich nicht.
Christa, 81, Schneidermeisterin und Lehrausbilderin in Rente
Ich musste niemandem Rechenschaft ablegen. Ich hatte keine Kontrollinstanz. Das hat mich in den Zwiespalt gebracht, dass ich dachte: Was ist denn jetzt richtig? Ist das so, dass wir als Kirche so wichtig sind, dass wir jetzt hier das Programm weiterlaufen lassen, während alle anderen zumachen? Ich hatte mir auch gewünscht, dass meine Kirche – also die evangelische Kirche, die sehr basisdemokratisch strukturiert ist – dass meine leitenden VertreterInnen empfehlen zu schließen. Das ist nicht passiert und ich habe darunter gelitten. Aber ich habe dann irgendwann verstanden, dass die Ordnung meiner Kirche so ist.
Gunda, 49, Pfarrerin in einer evangelischen Gemeinde
Das Team, was ich kenne, ist komplett zersprengt. Eine arbeitet dort, der andere dort. Und zur Zeit werden alle Patienten zusammengewürfelt, die nicht Corona haben. Das heißt, man hat dann teilweise fünf Fachgebiete auf einer Station, von denen man aber teilweise gar nicht so viel Ahnung hat, weil man ja die ganzen Jahre auf seinem Gebiet gearbeitet hat. Man möchte den Patienten Sicherheit vermitteln, in dem was man tut, auch Fragen ordentlich beantworten können. Aber wenn ich jetzt zum Beispiel mit Gefäß-Patienten zu tun hatte und die Patienten fragen mich jetzt spezielle Sachen, dann kann ich denen leider keine Antwort geben. Das demotiviert mich dann auch selber.
Claudia, 32, Gesundheits- und Krankenpflegerin