Der Fußball ist eine Art Religionsersatz. Ein Gespräch mit dem Soziologen Sacha Szabo
Fußball ist die Lieblingsleidenschaft der Deutschen. Sei es der Lieblingsverein oder die Spiele der Nationalmannschaft. Er gehört mit zum Leben vieler. Samstags wird das Spiel zum Höhepunkt der Woche. Was ist es, was die Menschen so am Fußball begeistert? Der Freiburger Soziologe Sacha Szabo vom Institut für Theoriekultur hat sich intensiv mit Festen und Erlebnissen auseinandergesetzt und zeigt die kulturellen Tiefendimensionen dieses scheinbar profanen Spiels auf.
Warum beschäftigen sich Soziologen mit Fußball?
Sacha Szabo: Als Massenphänomen ist Fußball selbstverständlich ein Thema für die Kulturwissenschaft. Kulturwissenschaft hat nicht nur die Aufgabe elitäre Kulturbegriffe zu entwickeln, sondern auch die Kultur, die uns alltäglich umgibt zu verstehen. Und so ist Fußball als Massenphänomen nicht nur in der Mitte der Gesellschaft angekommen, sondern auch mitten in der Wissenschaft. Unzählige Arbeiten ziehen Metaphern aus dem Fußball heran, um ihre Argumentation zu verdeutlichen. Ausgehend von Peter Handkes Romantitel, die Angst des Torwarts vorm Elfmeter, was fast zu einen geflügelten Sprichwort geworden ist, bis hin zu Niklas Luhmann, haben sich Wissenschaftler mit dem Fußball beschäftigt.
Und warum beschäftigen sie sich dann auch noch damit?
Sacha Szabo: Mein Blick auf den Fußball unterscheidet sich von diesen Ansätzen, er stellt nicht den Sport in den Mittelpunkt, mich interessiert das Ereignis. Ein Fußballspiel folgt einer quasireligiösen Liturgie. Das Stadion als Fußballtempel, die Rede vom Fußballgott. Das Bekreuzigen beim Einlaufen, es gibt unglaublich viele Aspekte die diese religiöse Dimension betonen. Dazu kommen die äußeren Aspekte. Wie das Stadion in dem die Fans, die eine tiefe emotionale Verbundenheit mit ihrer Mannschaft verbindet. Sie stimmen dort Fangesänge, also eine Art Choral an. Dieser Blick auf das quasireligiöse fasziniert mich.
Fußball als Religion? Es ist doch ein Spiel!
Sacha Szabo: Man sollte den Begriff des Spiels nicht einfach nur leichtfertig nutzen. Ursprünglich waren die Spiele, wie etwa die olympischen Spiele, Wettbewerbe, die eine religiöse Funktion innehatten. Das Spiel entführt den Spieler durch seine Eigengesetzlichkeit in eine andere Wirklichkeit. In dieser Wirklichkeit herrscht eine andere raumzeitliche Ordnung und andere Gesetze. Genau dies zeichnet auch den Fußball aus. Regeln, Spielfeldgröße und Spieldauer. Durch diesen exklusiven Raum kann nun der Teilnehmer, und nicht nur die Spieler sind Teilnehmer, sondern eben auch die Zuschauer sind Teilnehmer, in eine andere Wirklichkeit eintauchen. Eine Wirklichkeit in der für die Dauer dieses Erlebnisses all die Sorgen, sowohl die alltäglichen, als auch die existentiellen vergessen sein. Es ist ein neunzig minütiges Jenseits.
Fußball ist also aus ihrer Sicht ein Schauspiel?
Sacha Szabo: Wenn man sich mit Spielen beschäftigt dann zeigt sich, dass es vier Gruppen von Spielen gibt. Wettkampfspiele, Glückspiele, Schauspiele und Rauschspiele. Beim Fußball, und das ist das besondere, finden wir alle vier Gruppen gleichermaßen vor. Es ist ein Wettkampf bei dem auch das Glück eine Rolle spielen kann. Er wird vor Publikum vorgestellt und sowohl Spieler als auch Zuschauer können sich in einen Rausch hineinsteigern. Nun ist es so, dass der Mensch diese extremen Erlebnisse nicht konstant aushalten kann, auch deshalb dauert ein Spiel 90 Minuten. Dadurch, dass nun das Spiel den Zuschauer so inkludiert, ist es eine Art Katharsis. Der Mensch kann in einem Spiel die unterschiedlichsten Gefühlszustände ausleben. Ein Ausleben, das im reglementierten Alltag nicht mehr möglich ist. Ein Ausleben, das im Alltag auch durch die unterschiedlichsten Regeln besetzt ist. Wo dürfen heutzutage Männer in aller Öffentlichkeit weinen, beim Fußball. Dieses Ausleben der Gefühle, versetzt den Menschen in einen unreflektierten Zustand, in dem er ganz Gegenwart ist. Er ist ganz naturhaftes Wesen und zeigt ohne kulturelle Zensur was gerade in ihm vorgeht.
Woher kommt der Fußball?
Sacha Szabo: Es gibt Versuche den Fußball schon bei den Azteken zu belegen und tatsächlich wurde dort ein Ballspiel gespielt. Auch haben mittelalterliche Mönche ein Ballspiel zu meditativen Zwecken gespielt. Aber der Fußball ist eigentlich eine Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts. Er entstand in England und verbreitete sich in Europa und wurde in Deutschland als Englische Krankheit oder Fußlümmelei verschrien.
Warum spielen Menschen so gerne Fußball?
Sacha Szabo: Natürlich ist das Spiel nicht in jedem Land beliebt, das ist ja nachvollziehbar. Aber was den Fußball als Spiel auszeichnet ist seine Unberechenbarkeit. Es ist eine Inszenierung ob man mit Übung und Geschick das Schicksal bezwingen kann. Ein wunderbares ästhetisches Thema. Häufig kann man das, aber manchmal gelingt es nicht und dann sagt man eben gerne. “Der Fußball hat seine eigenen Gesetze”.
Viele haben ihren Lieblingsverein, wie ist das mit der Nationalmannschaft?
Sacha Szabo: Die Identifikation mit dem Verein ist insofern spannend, als dass sich hier Menschen als Teil einer Gemeinschaft empfinden. Bei einer Nation ist man Teil einer Gemeinschaft, aber auch Teil einer Gesellschaft. Der Begriff der Nation war in Deutschland, wie dies Plessner beschrieb, ein anderer als etwa in England. Er sprach von der verspäteten Nation die deshalb zum Nationalismus führte. Deshalb finden auch regelmäßig reflexhaft die Auseinandersetzungen statt ob Fußballpatriotismus zum Nationalismus führt. Beim Gewinn der Weltmeisterschaft 1990 weiß ich noch, dass man sich richtig schämte schwarz-rot-goldene Fahnen zu zeigen. Löst man ein wenig den Blick, dann zeigt sich für mich, dass sich das Konzept der Nation langsam auflöst. Teilweise gibt es Supranationen, wie die EU, vor allem aber ist die Globalisierung ein transnationales Phänomen. Natürlich wird reflexhaft auf die Nation oder auf die Heimat oder was auch immer Rückbezug genommen, aber die Identität vieler ist heute weniger von der Geschichte bestimmt als von ihrer eigenen Biographie. Vor diesem Hintergrund ist die deutsche Nationalmannschaft eher sowas wie der Lieblingsverein dem man sich aus Vertrautheit verbunden fühlt.
Vielen Dank für das Gespräch.
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