Wie sich eine neue Spielart des Kapitalismus etablieren und an Macht gewinnen konnte – Interview mit Andreas Herteux
Andreas Herteux, der Gründer der Erich von Werner Gesellschaft über Funktonsweise und den zunehmenden Einfluss des von ihm erforschten, analyisierten und identifizierten Verhaltenskapitalismus.
Herr Herteux, Sie haben eine neue Spielart des Kapitalismus beschrieben. Wie würden Sie diesen in wenigen Worten beschreiben?
Unter Verhaltenskapitalismus versteht man eine Spielart des Kapitalismus, in der menschliches Verhalten zum zentralen Faktor für die Produktion und Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen wird.
Klingt erst einmal sehr abstrakt.
Das stimmt und das macht es auch sehr schwierig, den Verhaltenskapitalismus überhaupt zu erkennen. Tatsächlich ist es aber gar nicht so schwer. Denken wir an einen Bäcker und seine Brötchen. Es dürfte uns allen ungefähr klar sein, welche Rohstoffe er für den Herstellungsprozess brauchen wird. Für unsere Brötchen vielleicht Mehl, Wasser, Hefe und etwas Salz.
Springen wir nun von der Backstube ins Internet. Dem größten Teil von uns ist bereits personalisierte Werbung begegnet. Beispielsweise haben wir nach einem Urlaub in den Bergen gesucht und urplötzlich werden wir mit Emails, Bannerwerbung und Meldungen in den sozialen Medien zu diesem Thema konfrontiert. Diese personalisierte Werbung kann aber nur an uns gerichtet werden, wenn man zuvor unser Verhalten, in diesem Fall die Suchanfrage, ausgewertet hat. All die Dienstleistungen, Anzeigen, Freundschaftsvorschläge – all diese Brötchen wurde aus einem Teig gebacken: Unserem Verhalten, dass zuvor offen, verdeckt oder dialogisch abgeschöpft und anschließend ausgewertet, was bedeutet, dass dieser Rohstoff in einer metaphorischen Verhaltensfabrik zu Prognose- und Befriedigungsprodukten umgewandelt wurde, um für uns etwas Individuelles aus dem metaphorischen Ofen zu holen.
Wenn man es aus der Sicht betrachtet ist das Verhalten das Mehl der Internetkonzerne?
Richtig, menschliches Verhalten ist daher offensichtlich ein nutzbarer Rohstoff und dieser Rohstoff entwickelte sich durch den technologischen Fortschritt zu einem Produktionsfaktor, der zu ganz neuen Geschäftsmodellen geführt hat, die inzwischen einen massiven Einfluss auf das wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Leben nehmen. Es wäre fatal, hier nur von einem Geschäftsmodell zu sprechen, denn dafür ist dessen Macht viel zu groß. Es handelt sich vielmehr um eine neue Spielart des Kapitalismus: Verhaltenskapitalismus.
Ist das Nutzen von menschlichem Verhalten wirklich ein neues Phänomen?
Das menschliche Verhalten war natürlich immer ein wesentlicher Faktor und Rohstoff. Schon allein für die Bereiche des Vertriebs und Marketings, aber auch als Rohstoff. Denken wir hier nur an die Versicherungsbranche, die schon weit vor der Moderne “Verhalten” bei den Kunden abgeschöpft und damit neue Produkte konzipiert und alte optimiert hat. In dieser Branche war dieser Rohstoff schon immer mehr eine primäre Geschäftsgrundlage. Im Übrigen auch in der Politik oder, wenn man es historisch mag, beim Ablasshandel.
Der technische Fortschritt hat allerdings die Möglichkeit der Verhaltensabschöpfung beinahe ins Unendliche gesteigert und sie benötigen zur Auswertung auch keinen Menschen mehr, sondern, vereinfacht ausgedrückt, nur noch die lernende Maschine. Nur zwei Zahlen, um das ein wenig zu unterstreichen; alleine bei Google gab es schon 2017 ungefähr 3,8 Millionen Suchanfragen und bei Youtube 4,1 Millionen Video-Klicks. Pro Minute. Sie können sich ungefähr ausrechnen, wie viele Verhaltensdaten sich damit an einem Tag abschöpfen lassen und zum größten Teil kann sogar unmittelbar ein Produkt oder eine Dienstleistung hergestellt und angeboten werden, auch wenn es nur die Antwort zu einer Suchanfrage ist.
Von solchen Datenmengen kann mein Versicherungsvertreter nur träumen.
Die Versicherungen sind heute hier zwar auch deutlich besser aufgestellt, aber Sie sehen den Unterschied an der richtigen Stelle. Erst ein Zeitenwandel, zu dessen Elementen auch die schnelle und dynamische Weiterentwicklung der Technologie gehört und die Konditionierung des Menschen auf deren Benutzung, die man als Reizgesellschaft bezeichnen würde, wobei wir nicht in die Psychologie abdriften wollen, haben aus einem Rohstoff einen Produktionsfaktor gemacht. Daher können wir heute von einem Verhaltenskapitalismus sprechen.
Gibt es für so eine Entwicklung eine Parallele?
Ja, nach einem ähnlichen Prinzip ist der Finanzkapitalismus aus dem klassischen Kapitalismus entwachsen. Das Kapital war zwar schon immer ein volkswirtschaftlicher Produktionsfaktor, aber es wurde erst viel zu spät erkannt, dass er als eigenständiges Element zu einer neunen Spielart des Kapitalismus geführt hat. Noch heute gibt es größte Probleme dessen Mechanismen zu erkennen und richtig zu deuten. Daher kann er auch etwas unter dem Radar agieren. Hier gibt es eine Parallele zum Verhaltenskapitalismus.
Vor den Gefahren einer solchen Entwicklung warnt auch Sohsana Zuboff, die allerdings nicht den von Ihnen geprägten Begriff “Verhaltenskapitalismus” nutzt, sondern von einem Überwachungskapitalismus spricht.
Ja und ich schätze ihre akribische und kritische Arbeit sehr, allerdings haben ihr Konzept eines Überwachungskapitalismus wenig mit dem Modell des Verhaltenskapitalismus gemein. Frau Zuboff sieht ihren Überwachungskapitalismus, und das verrät schon das Wort, als etwas grundsätzlich negatives und menschgemachtes, was sich einige wenige Leute vor ein paar Jahren bei Google ausgedacht haben, um ganz bewusst Macht, Reichtum und Einfluss zu gewinnen.
Für den Verhaltenskapitalismus ist die Entwicklung dagegen eine ganz logische kapitalistische Folge und steht in Kontinuität. Er ist keine Entartung, wie es bei ihr heißt, sondern die Wasser fließen einfach weiter. Konzerne wie Google entstanden aus diesem Fluss und nicht außerhalb desselbigen irgendwo am trockenen Ufer.
Trotzdem waren Sie beide vor den Gefahren
Das ist richtig, allerdings betrachtet der Überwachungskapitalismus die Entwicklung ausschließlich negativ. Er will warnen, möchte subjektiv sein und nicht unbedingt ein Modell als Abbildung der Wirklichkeit aufzeigen. Der Verhaltenskapitalismus will genau das, wägt daher zwischen Chancen und Risiken ab und bemüht sich um eine neutrale Darstellung allgemeiner Mechanismen. Natürlich sieht er dabei ebenso die Möglichkeiten der Manipulation, aber eben auch die andere Seite.
Denken Sie nur an unser Beispiel der Suchanfragen. Sie erhalten von Google & Co. auch eine Antwort und Youtube zeigt ihnen das gewünschte Video. Auch muss personalisierter Inhalt nicht grundsätzlich schlecht sein, selbst dann nicht, wenn er verdeckt erfolgt, denn mit einer Einbettung lassen sich vielleicht sogar Bedürfnisse ermitteln, die der Mensch niemals ohne die neue Technologie entdeckt hätte. Nehmen Sie nur das Exempel des Urlaubes in den Bergen. Vielleicht arbeitet die lernende Maschine für Sie heraus, dass Bergsteigen schon immer Ihre Leidenschaft war? Wäre das dann schlecht, wenn Sie so ein inneres Bedürfnis entdecken würden?
Auf der Schattenseite steht aber natürlich auch die Möglichkeit der Manipulation. Gegen die müssen wir uns wehren, allerdings dürfen wir uns dabei nichts vormachen, so gerne wir das auch wollen. Größere Teile der Bevölkerung, also nicht wenige Milieus, werden einen Teil ihrer Freiheit mit Freuden gegen eine bedürfnisermittelnde und befriedigende Einbettung eintauschen. Vielleicht erhält manch Homo stimulus sogar erstmals die Möglichkeiten der Selbstverwicklung. Das klingt für manche Ohren erschreckend, wird aber Realität sein. Resignation wäre allerdings die falsche Reaktion. Vielmehr sollte uns die Realität Ansporn werden, allen zu verdeutlichen, dass sie nicht wählen müssen: Einbettung oder Freiheit, sondern beides haben können. Hierfür sind aber noch nicht einmal Ansätze zu erkennen. Eine sehr gefährliche Situation.
Wie sollte man den Gefahren des Verhaltenskapitalismus gegenübertreten?
Erst einmal in dem man sie erkennt und auch in den richtigen Zusammenhang einordnet. Der Verhaltenskapitalismus wird zusammen mit der Reizgesellschaft eine Ära des kollektiven Individualismus auslösen, bei dem der Individualisierungsprozess allerdings durch Milieukämpfe gehemmt wird. Grundlegende Punkte mit denen wir uns bei der Erich von Werner Gesellschaft tiefergehend beschäftigen, denn hier ist auch die Ursache für die schwierige gesellschaftliche Lage zu sehen und nicht etwa in obsoleten Erklärungsmodellen aus dem vorherigen Jahrhundert wie dem überholten Links-Rechts-Schema.
Dieses und den Umstand, dass wir vor eine Zeitenwende stehen, durch den sich die internationalen Machtverhältnisse in den nächsten Jahrzehnten radikal verändern können, muss man realisieren und akzeptieren. Es bewegt sich etwas.
Selbst, wenn man dieses erkennen würde, bräuchte es Ideen und hier sind wir aber leider sehr fantasielos geworden oder kapitulieren vor einer komplexen Welt und so vielen Zusammenhängen.
Es bedarf daher einer umfassenden Lösung, die all diese Probleme lösen kann. Mit dem Modell der Alternativen Hegemonie (AH-Modell) haben wir ein solches vorgestellt, das den Kapitalismus korrigieren und den großen Herausforderungen unserer Zeit begegnen könnte. Mit ihm können wir den Kapitalismus in eine Wertemarktwirtschaft umformen. Veränderung zum Besseren ist daher möglich. Es bedarf nur des Mutes.
Vielen Dank für das Gespräch
Die Arbeit von Andreas Herteux ist auf der offiziellen Website der Erich von Werner Gesellschaft (https://www.understandandchange.com/publications/) sowie in den üblichen wissenschaftlichen Netzwerken unter der DOI-Nummer 10.13140/RG.2.2.2.32319.25768 verfügbar.
Sie ist bereits jetzt Teil reger Diskussionen. und muss es auch sein, da die beschriebene Entwicklung die nahe und fernere Zukunft prägen wird.
Die Erich von Werner Gesellschaft hat es sich zum Ziel gesetzt, die Welt zu verstehen und sie zum Besseren zu verändern.
Diesem Ziel nähert sie sich dadurch, in dem sie das Geschehen auf dem Erdenrund – ohne ideologische Fesseln oder starre Denkstrukturen – analysiert und anschließend Lösungsmodelle für globale Probleme entwirft.
Die Erich-von-Werner-Gesellschaft hat bei ihrer Tätigkeit das Wohl der gesamten Menschheit im Blick und bemüht sich, dementsprechende Entwicklungen zu anzustoßen, zu vertiefen und zu fördern, die diesem Ziel dienen.
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