“Der schlimmste Teil der Krise steht uns noch bevor!”

Laut dem aktuellen ARD-Deutschlandtrend von infratest dimap sind 75 Prozent der befragten Bundesbürger der Ansicht, dass uns der schlimmste Teil der europäischen Wirtschaftskrise noch bevorsteht. Der Wirtschaftspsychologe und Autor Winfried Neun erklärt, warum diese Angst durchaus begründet ist.

Winfried Neun

Was ist das Besondere an dieser über Jahre hinweg andauernden Finanz-, Schulden- und Vertrauenskrise?

Seit Jahren jagt nun eine Krise die nächste. Das Besondere an diesen Krisen ist, dass sie, so unterschiedlich sie auch erscheinen mögen, eines gemeinsam haben – und zwar die Ursache: ein verstärktes Misstrauen. In den letzten Jahren lässt sich nicht nur ein zunehmendes Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Finanzmärkten feststellen, sondern vor allem auch gegenüber den politischen Kräften, denen es nicht gelingt, die Krisen zu bewältigen. Die psychologische Komponente spielt hierbei eine ganz entscheidende Rolle. Eine nicht stringente Kommunikation, Intransparenz und nicht eingehaltene Versprechen führen zu einem Verlust an Glaubwürdigkeit und somit zu einer großen Verunsicherung. Nicht rein ökonomische Faktoren wie etwa der Zusammenbruch eines Industriezweiges oder eines ganzen Sektors hat in der Vergangenheit die verschiedenen Eskalationsstufen erzeugt, sondern vielmehr die psychologische Verunsicherung der Gesellschaft.

Warum kommt der Wirtschaftspsychologie gerade in Krisenzeiten besondere Bedeutung zu?

Die Wirtschaftspsychologie spielt besonders in Zeiten solcher Krisen, die nicht ökonomisch fundiert, sprich durch Kriege oder beispielsweise den Zusammenbruch einer Wirtschaftsmacht bedingt sind, eine zentrale Rolle. Denn die Verunsicherung und die Ängste, die sich infolge einer Krise in den Köpfen der Menschen breitmachen, tragen ganz entscheidend zu deren Verlauf bei. Deshalb muss die psychologische Komponente an allererster Stelle Einzug in die Bearbeitung einer solchen Krise finden. Die Wirtschaftspsychologie mit ihren Untersuchungen zu den Verhaltensmustern von Anlegern, Immobilienkäufern, Führungskräften und Wirtschaftspolitikern kann einen entscheidenden Beitrag zur Lösung einer bestehenden Krise leisten.

Warum nehmen Politiker und Wirtschaftslenker die wirtschaftspsychologischen Erkenntnisse zur Krisenbewältigung so schwer an?

Die Psychologie als Wissenschaft ist in Wirtschaftskreisen für viele noch immer ein rotes Tuch. Nur allzu oft werden wirtschaftspsychologische Ansätze mit der Begründung abgelehnt, es handle sich dabei nur um Scharlatanerie oder Couchdenken. Hinzu kommt das Problem, dass die Wirtschaftspsychologie häufig für Ausreden und Pseudoerklärungen missbraucht wird, die aber letztlich nicht wissenschaftlich belegt sind – leider! Denn darunter leidet die Glaubwürdigkeit dieses Wissenschaftszweiges unnötig. Zudem weisen viele der Lenker keine fundierte Ausbildung im Bereich der Wirtschaftspsychologie auf. Doch glücklicherweise zeichnet sich derzeit eine Trendwende ab – immer mehr Universitäten und Hochschulen bieten eigenständige Studiengänge der Wirtschaftspsychologie an. Ein klares Anzeichen dafür, dass die Wirtschaftspsychologie sich bewährt und künftig noch mehr Beachtung in der Ausbildung von Managern finden muss.

Steht die Eurozone vor dem Aus?

Ja, denn wenn wir die Krise nicht auf psychologischer Ebene in den Griff bekommen, zieht das reale, ökonomische Probleme nach sich. Schon jetzt zeigt sich an unterschiedlichen Beispielen wie an den Diskussionen um Managergehälter oder um den Umgang mit Steueroasen, dass hier kein Weiterkommen ist. Denn mithilfe derartiger Neiddiskussionen um Reglementierungen von Gehältern wird man den psychologischen Faktoren nicht gerecht werden können. Zudem geht diese Diskussion am eigentlichen Problem vorbei. Zunächst einmal muss Vertrauen aufgebaut werden: das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Aussagen von Politik, Finanzwirtschaft und so weiter muss sukzessive wiederhergestellt werden. Leider ist in diese Richtung bisher jedoch nur wenig Engagement zu erkennen, weswegen es nicht verwundert, dass die Bevölkerung Zyperns oder auch Griechenlands Deutschland scharf kritisiert. Es werden Schuldige für die finanziellen Sanktionen gesucht. Wir laufen Gefahr, dass sich die Köpfe auf politischer Ebene der EU auseinanderdividieren und es somit zu einem Bruch der Eurozone kommt.

Was empfehlen Sie Politik und Wirtschaft, um das Aus der Eurozone zu vermeiden?

Es muss aufgehört werden, an Symptomen herumzudoktern. Wichtig ist, dass man die Kernursache der Krisen lokalisiert. Und diese Ursache liegt in einem immer stärker werdenden Vertrauensverlust in marktwirtschaftliche Systeme. Man glaubt nicht mehr, dass eine Marktwirtschaft in der Lage ist, sich selbst zu regulieren, weshalb das Prinzip der freien Marktwirtschaft von vielen in der Bevölkerung in Frage gestellt wird.

Die Politik sollte jetzt daran arbeiten, die soziale Marktwirtschaft als sozial nachhaltige Marktwirtschaft zu reformieren. Hier sind Zeit, aber auch Kreativität und Ideen gefragt. Denn den Leuten muss wieder klargemacht werden, dass die Kräfte der Märkte wichtig sind und dass sie auch kontrolliert werden. Nachhaltiges Wirtschaften hinsichtlich der Gesamtwirtschaftsentwicklung der Eurozone muss in den Vordergrund rücken.

Das Interview ist zum Abdruck unter Nennung der Quelle freigegeben.

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Bildrechte: Winfried Neun

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