Seit dem 1. Januar 2022 müssen alle Haltestellen barrierefrei sein. Es muss also eine “vollständig barrierefreie” Nutzbarkeit des Nahverkehrsangebotes geben. Das ist leider häufig nicht der Fall.
Das Behindertengleichstellungsgesetz und die Novelle des Personenförderungsgesetzes von 2013 verlangen eine “vollständig barrierefreie” Nutzung des Nahverkehrsangebotes. Um diese Forderung der Fahrgäste gerecht zu werden, besteht auch seit dieser Zeit rege Bautätigkeiten von Bushaltestellen. Es geht darum, dass für die Fahrgäste mit und ohne Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe, die Haltestellen zugänglich und nutzbar sein müssen. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.
o Doch sind die Bushaltestellen auch wirklich barrierefrei?
o Und entsprechen die Bushaltestellen den Anforderungen gemäß Normen und Regelwerke?
o Diese Frage ist nur zum Teil mit ja zu beantworten.
Nachstehend einige Beispiele von kürzlich gebauten fehlerhaften Bushaltestellen.
ANFAHRTEN AN BUSBORDE ZUR HALTESTELLE
Bild 1 zeigt einen unsinnigen 7 m langen Bordsteinübergang an einer geraden Anfahrt vom 12 cm Hochbord auf 22 cm hohen Busbord.
Von der bisherigen Höhe der Haltestellenkante von 16 cm auf 18 cm (nach Regelwerk), werden seit einiger Zeit z. B. in Hessen “auf Empfehlungen von Hessen Mobil (Straßen- und Verkehrsmanagement)”, die Haltestellen der Busborde auf 22 cm angehoben. Für diese Höhe werden Borde mit Spurführung eingesetzt, um ein Überstreichen der Busborde auszuschließen und nahezu ein stufenloser Ein- und Ausstieg vom Verkehrsmittel zu erreichen. Mithilfe von Übergangsteinen erfolgt die Anpassung auf das Höhenniveau. Für die Überwindung der Höhendifferenz von 10 cm ergibt sich mit den Spezialborden eine Anfahrstrecke von max. 3 m bei 6 % Rampenneigung. Anschließend erfolgt auf der gesamten Fahrzeuglänge eine ebene Einstiegshöhe für alle Fahrgäste. Neu ist allerdings, dass einige Kommunen die Bordverziehung bis zur hinteren Bustür auf ca. 9 m verlängern. Das ist sehr problematisch, weil oft die Busse nicht immer an ihrem Haltepunkt stehen und die hintere Tür sich dann nicht am 22 cm hohen Busbord befindet. Das bedeutet, dass die Halteposition präzise eingehalten werden muss, damit die hintere Fahrzeugtür auch verlässlich im Bereich des höheren Bordes liegt. Diese entspricht nicht den zukunftsmäßigen Herausforderungen, denn eine reduzierte Einstiegsebene bis nur zur hinteren Bustür ist abhängig von den Fahrzeugtypen mit deren Abmessungen, das ist nicht zielführend. Solche Varianten mit “differenzierter Haltestelle” sind daher zu verzichten.
STANDORT DYNAMISCHE FAHRGASTINFORMATIONEN
In Bild 2 befinden sich eine Einstiegsstelle und ein DFI-Mast am schrägen Übergangsstein.
Der Haltestellenpunkt für den Einstieg der Fahrgäste befindet sich in Bild 2 am Übergangsstein zum Hochbord. Mithilfe der Bodenindikatoren ist die Einstiegsstelle für alle Fahrgäste festgelegt. Besonders wichtig sind die Bodenindikatoren, sie deuten Blinde und Sehbehinderte den Türeinstieg zum Bus. Unmittelbar daneben befindet sich der Mast der dynamischen Fahrgastinformation (DFI). Diese Situation den Haltepunkt an einem Übergangsstein anzuordnen ist eine Gefahrenstelle für die Passanten! Der schräge Bordstein kann zu Fehlauf- oder abtritt führen. Besonders betroffen sind Kinder, blinde und sehbehinderte Menschen, aber auch ältere Fahrgäste. Bei diesem gravierenden Mangel ist ein baulicher Umbau unbedingt notwendig!
Bild 3 zeigt eine gefährliche Engstelle zwischen DFI-Mast und Fahrzeug.
Der Mast für die digitale Anzeigetafel (DFI) ist in dieser Stadt bei fast jeder neugebauten Bushaltestelle unmittelbar im Einstiegsbereich der ersten Bustür neben den Bodenindikatoren aufgestellt. Dieser Standort ähnelt der Situation einer Fahrbahnüberquerung mit Lichtsignalanlage. Hier können für blinde und sehbehinderte Fußgänger Verwechslungen zur Verkehrssituation entstehen, da die Lage der Masten in Farbe und mit dem Anforderungstaster identisch sind. Darüber hinaus sind die grauschwarzen Masten eine Gefahr beim Aussteigen der Fahrgäste, wenn der Bus direkt an seinem Haltepunkt (Einstiegstelle Bodenindikatoren) anfährt. Sehbehinderte und blinde Fahrgäste können beim Aussteigen aus dem Bus sich an den nahestehenden Pfosten stoßen und sich verletzen. Des Weiteren, wie im Bild zu sehen, geht die ältere Dame zwischen dem DFI-Mast und dem Busbord entlang. Diese Situation wäre gefährlich, wenn der Bus schon abfährt und die ältere Dame sich noch am DFI-Mast befände.
HINWEIS:
Grundsätzlich sollten die DFI-Anlagen außerhalb des Einstiegsbereich stehen. Hierzu bietet sich der Standort unmittelbar an der Wartehalle an.
In Bild 4 verändert der DFI-Mast den Haltepunkt am Einstiegsfeld des Busses.
Auch das Bild 4 zeigt eindeutig, dass die Busse nicht bis zu den Bodenindikatoren heranfahren, sondern wegen dem dort stehenden Pfosten weiter zuvor halten. Für sehbehinderte Fahrgäste und Blindenlangstocknutzer erschwert sich die Suche nach der Türöffnung zum Bus. In diesem Fall ist es unbedingt notwendig, die Bodenindikatoren vom Auffindestreifen um mindestens zwei Reihen vom DFI-Mast entfernt anzulegen. “Die beste barrierefreie Haltestelle nützt nichts, wenn der Bus nicht zu seinem Haltepunkt heranfährt und die Tür nicht mehr barrierefrei erreichbar ist.”
DISPLAY DYNAMISCHE FAHRGASTINFORMATIONEN
Bei diesen digitalen Anzeigebildschirmen in Bild 5 und Bild 6 sind eine ganze Reihe von Aspekten aus den Normen der Barrierefreiheit nicht berücksichtigt worden. Die Anzeigen der weißen Leuchtpunkte sind schlecht lesbar, hier sind Fahrgäste mit eingeschränkter Sehfähigkeit hilflos, zuweilen nicht benutzbar – wenn nämlich die Sonneneinstrahlung das Display des Gerätes unlesbar macht. Der notwendige Leuchtdichtekontrast mit der visuellen Information wird durch die DIN 32975 bestimmt, ebenso die erforderliche Schriftgröße in Abhängigkeit vom Beobachtungsabstand. Die Anzeigebildschirme müssen also gut lesbar und blendfrei sein. Wie in den beiden Bildern zu sehen, entsprechen diese Display nicht den barrierefreien Anforderungen (vgl. DIN 32975, DIN-Reihe 18040). Für die Nachbesserung der Ausgestaltung sollten kompetente Fachplaner und Herstellerfirmen dementsprechend angefordert werden.
In Bild 5 und Bild 6 werden die Anforderungen an Barrierefreiheit der digitalen DFI-Displays nicht erfüllt.
FAHRGASTUNTERSTAND (WARTEHALLEN)
Bild 7 und Bild 8 zeigen eine nicht normkonforme Ausstattung von Wartehallen.
Die Ausstattung vieler Wartehallen sind nicht nach den Anforderungen an Barrierefreiheit ausgerichtet. Oft befindet sich die Aushanginformation direkt über den Sitzplatz. Für die sitzende Person unter der Informationstafel ist es eine Belästigung, wenn der Fahrgast sich darüber beugt, um den Plan zu lesen (siehe Bild links). Die Informationstafel für Fahrplan, Linienübersicht etc. sind zu hoch angeordnet und die Schrift zu klein. Fahrgäste mit Rollstuhl oder z. B. kleinwüchsige Personen können diese Information nicht nutzen. In der DIN 32975, DIN-Reihe 18040 sind hierzu die Anforderungen definiert. Weiterhin sollten die Sitzbänke so aufgestellt sein, dass der freie Platz für Rollstuhl- und Rollatornutzer ein kurzer Weg zur hinteren Bustür ermöglicht wird.
KONTRASTITÄT
Für Fahrgäste mit Sehbehinderungen sind dunkle Bauelemente kaum zu erkennen. Der häufig verwendete “Grau-in-Grau-Ton” widerspricht der Notwendigkeit einer kontrastreichen Gestaltung. Bestimmt ist es für den Planer einfach, alles in einem Grauton zu konzipieren, gegenüber einem freundlichen farbigen Umfeld. Kontraste von Kanten, Pfosten und Gegenständen sind nach DIN notwendig. Auf diesem Anspruch sollte nicht verzichtet werden.
Der Abfallbehälter am aufgepflasterten Seitenteil zur Wartehalle ist für Rollstuhlnutzer nicht anfahrbar und die Einwurfhöhe zu hoch, das sind auch Nachteile für kleinwüchsige Fahrgäste. Diese Höhe sollte das Norm-Maß von 85 cm entsprechen. Abfallbehälter die nicht im Seitenschutzteil der Wartehalle befinden, sollten nach der DIN 18040-1 mit einer unteren Tastleiste für Langstocknutzer ausgestattet sein.
FAZIT
Die notwendige barrierefreie Anpassung von Bushaltestellen liegt in der unmittelbaren Zuständigkeit der Kommunen als Baulastträger. Für die Erreichung der Ziele barrierefreie Bushaltestellen sind die Bedürfnisse der mobileingeschränkten Fahrgäste mit deren Anforderungen zu erfüllen. Das bedarf Fachkenntnisse der Planer gemäß den allgemein anerkannten Regeln der Technik zu Normen und Regelwerken, ebenso der Auftraggeber. Die Beispiele zeigen, es ist daher dringend angeraten, bauliche Korrekturen bei vielen der neu ausgebauten Haltestellen durchzuführen, damit tatsächlich die Barrierefreiheit an Bushaltestellen erreicht wird.
Wendelin Mühr
Dip.-Ing. Fachgebiet Straßenbau/Tiefbau
www.barrierefreie-mobilitaet.de
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Herr Wendelin Mühr
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Herausgeber der Fachbücher:
Handbuch “IM DETAIL Gestaltung barrierefreier Verkehrsraum” Teil 1 + Teil 2
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