Die Ukrainische Staatsoperette Kiew feiert ihren 80. Geburtstag und ein ganzes Jahr dauern die farbenfrohen und glanzvollen Ereignisse an.
Eine alte Dame in neuem Gewand: Im Januar 1934 öffnete die erste ukrainische Operette in einem Theatergebäude von 1907 ihre Tore und am 14. Dezember 1935 gab sie mit der “Fledermaus” von Johann Strauss ihr Debut. Kurz darauf folgte bereits Karl Zellers “Vogelhändler”. Während des 2. Weltkriegs wurde die “Opereta” nach Kasachstan ausgelagert und kehrte 1945 wieder nach Kiew zurück, wo sie ein wenig vor sich hin dümpelte, um in den darauf folgenden zwei Dekaden mit einer bunten Mischung aus russisch-ukrainischen und westlichen Repertoire-Stücken zu unterhalten: “Drei Musketiere” von Maxim Dunaevsky, “Friend of Love” von V.Ilyina, “Das Veilchen vom Montmartre “, “Die Zirkusprinzessin”, ” Die Csárdásfürstin” und “Die Bajadere” von Emmerich Kálmán, “Sewastopol Walzer” von Listova, “Quadrille” von Hrohovskoho, “Star time”, “One-hundred first wife of the Sultan” von Filipenka. In den 90gern standen dann erst einmal Stolz und Freude über Ukrainisches im Vordergrund, was die musikalische Literatur, wie auch Auswahl der Künstler anging, erste kleinere Experimente folgten.
Mit dem Jahr 2003 und dem Eintritt von Bogdan Strutynskiy als Chef des Hauses wurde eine neue Seite in der Historie der “Kyiv Opereta” aufgeschlagen. Der junge künstlerische Leiter stellte radikal das Haus im wahrsten Sinne des Wortes auf den Kopf. Er legte vollkommen neue Maßstäbe an, um die Trägheit des überkommenen Systems zu überwinden und verpflichtete vor allem junge und kreative Leute, denen er die Möglichkeit zur Verwirklichung gab. “Die Zeit war reif, die alten Dinge unter einem neuen Blickwinkel anzuschauen und anzugehen”, so Strutynskiy und stürzte sich mit Elan, einer Portion Mut und einem um sich versammelten Kreativteam auf den “maroden Kasten”, den er im äußeren Erscheinungsbild und gleichzeitig im inneren Musikgeschehen umzukrempeln sich aufgemacht hatte.
Schon für die ganz Kleinen fing er an, Operette und Musical attraktiv zu gestalten. Zu “Karneval der ukrainischen Märchen”, “Schneewittchen und die Sieben Zwerge” und “Thumbelina”, allesamt ukrainische Stücke, verpflichtete er die besten Akteure des Landes und schuf dem “Nachwuchspublikum eine “Wohlfühl-Atmosphäre”. Noch in seinem Antrittsjahr brachte er “Die Fledermaus” in einer neuen Inszenierung auf die Bühne. Erste Renovierungsarbeiten begannen am Gebäude.
2004 dann wurde das Operettenhaus mit dem Status eines Akademie-Theaters institutionalisiert. Das “Kiew Akademie Operettentheater” war auf neue Füße gestellt und die Sorge um die leidliche jährliche Finanzierung erst einmal vom Tisch. Das Haus wurde von außen restauriert und Strutynskiys Ideen gemäß inwendig renoviert. Obwohl es sicher kein leichtes Unterfangen bedeutet, täglich 850 Plätze zu füllen, ist mittlerweile eine Kammerbühne hinzugekommen. Das “Theater in der Lobby” mit gut 100 Plätzen erweiterte die Möglichkeiten für Soloabende seiner Musical-Stars. Bachs “Kaffee Kantate” und auch Offenbachs “Verlobung bei der Laterne” und Vieles mehr findet im renovierten Haus statt. “Die Arbeiten sind noch nicht abgeschlossen”, so der Hausherr, erst 10 Prozent seiner Vorhaben seien umgesetzt.
Während inwändig unentwegt gehämmert und gestaltet wurde, trat Bogdan Strutynskiy mit seinen Ideen an die Öffentlichkeit. “Ohne Presse geht nichts”, so sein Slogan und er initiierte Wettbewerbe für Studenten, Kulturkritiker und Journalisten: junge Talente erhielten ihre ersten Auszeichnungen, ihre “Feder am Zylinder” für “die beste Rezension”, “das beste Interview”, “das beste Foto”. “Studierende des Theaters im weitesten Sinne auszuloben bedeutet eine win-win Situation für beide Seiten”, so Strutynskiy weiter, “es bringt uns eine neue Gilde von Theaterexperten und Schwung in weitergehende Kooperationen und davon partizipieren wir so gut wie die anderen Theater der ukrainischen Hauptstadt.”
Es folgten “My Fair Lady”, ein Dauerbrenner im Repertoire, und “Mr. X” in rein ukrainischer Besetzung und Sprache, sowie die ukrainische Operette “Fair”. Nach Auszeichnungen für Stücke, Regie, Besetzung und beste Vorstellung sollte dann das erste weitergehende Experiment mit “Tango of Life” als Tanzshow über die Bühne gehen. Der Erfolg blieb dem Haus treu, nicht zuletzt, weil immer Neues, Anderes, Unerwartetes geboten wurde: auf der Bühne der “Kyiv Opereta” reihen sich heute zeitgenössische und klassische Konzerte, Shows, Opern und Ballettvorstellungen als sicher umgesetzte Experimente aneinander, immer auf hohem Level präsentiert.
Ein open-air Musiktheater-Projekt findet seit 2013/14 statt. Operette, Musical und Oper vom einheimischen Veranstalter und Gästen aus Österreich, Frankreich, Kroatien, Russland, Rumänien, Kasachstan, Aserbaidschan und Iran, erklingen ebenso wie Jazz, Folk, Pop-Musik und Soundinstallationen.
Das Festival soll die Kunst der Operette, der Oper und des Musicals populärer machen und aufzeigen, was im Musiktheater außerhalb der Landesgrenzen passiert, natürlich auch unter dem Aspekt, Europäisches in die Ukraine zu bringen genauso, wie einen ukrainischen Showcase für den Export zu präsentieren. Letztlich will man die internationale Kulturelite anregen, mit nationalen Künstlern zusammen zu arbeiten.
Die “Opereta” geht nach draußen, mehrmals im Jahr unentgeltlich, ob zum Neujahr oder auch als Benefiz für den Krieg im Osten des Landes. Sie ist für alle da. Sie gibt ihren Künstlern ein Zuhause, den Verwaltungskräften renovierte Arbeitsräume voll Behaglichkeit und in einem Outfit, das wohl einzig scheint in diesem Genre. Die Mitarbeiter gehen anstatt in eine Kantine ins Souterrainrestaurant mit subventionierten Preisen. Besucher sind hier ebenso willkommen, man zahlt ein wenig mehr, dafür aber darf man sich fürstlich fühlen, so, wie es in der Operette sein muss.
Bogdan Strutynskiy plant zusammen mit Chefchoreograf Vadim Prokopenko eine deutliche Weiterentwicklung in Richtung aktueller und kreativer multi-media Lösungen, alles und immer auf höchstem Niveau. Künstler und Mitarbeiter wissen, wohin der unbeirrte “Weg mit eigenen Regeln” ihres Herrn und Meisters sie bereits geführt hat; die Fans wissen, was sie erwartet und beide lieben ihn. Man tourt innerhalb des Landes, auch nach Deutschland, Litauen, Serbien und Rumänien. In Bukarest machten sie mit einem rasanten Paul Abraham “Ball im Savoy” auf sich aufmerksam. Immer wieder überzeugen sie mit höchster Professionalität und Qualität auf, vor und hinter der Bühne. Die Königin der Operette in Budapest wird bald “in Sachen Lehar” mit ihnen kooperieren, ganz gewiss ein Treffen der Giganten.
Für diese langjährige Arbeit voller Engagement auf dem Level höchster Professionalität und Qualität wurden Bogdan Strutynskiy und – anlässlich des 80. Geburtstags – seine Opereta jetzt mit der Verdienstmedaille des KulturForum Europa ausgezeichnet. “In diesen dunklen Zeiten von Menschenverachtung und Krieg gibt die Opereta den Menschen für einen kurzen Zeitraum das wieder, was die Politik ihnen gestohlen hat: die Freue am Leben”, so KFE-Präsident Dieter Topp bei der Überreichung.
Dass diese Auszeichnung zu Recht verliehen wurde, bewies die Umsetzung des Broadway Musicals “SUGAR or some like it hot” nach dem berühmten Film von Billy Wilder mit Marilyn Monroe, Tony Curtis und Jack Lemmon. Wenn der Schwarzweißfilm von 1959 eine Persiflage auf Gangsterfilme und Melodramen darstellt, dann steht das Musical von Peter Stone, Jule Styne und Bob Merrill von 1972 mit seinem Tempo, den ebenso schwungvollen Dialogen und dem köstlichen Wortwitz sowie den Slapstick-Anleihen dieser 2015 Musical-Inszenierung von Strutynskiy und Prokopenko in nichts nach.
Irina Davydenko entwarf dem Film angelehnte Kostüme, wunderbare Kreationen für die Hauptdarsteller wie für die zahlreichen Tänzer und Akteure. Mit knappem Bühnenbild zweier überdimensionaler Koffer, die mal Zugabteile, Hotelzimmer, Gangsterbar und Strandambiente darstellen, sowie Fim-, Dia- und Lichtshow, zauberte Andrew Romanchenko eine stilechte Kulisse. Da hindurch bewegte sich eine schier unzählbare Schar von Akteuren, Tänzern und Sängern, die Igor Yaroshenko vom Pult mit einem großen Orchester durch die Jazzrhythmen fegte.
Komödie und Slapstick wollen gekonnt sein, zumal wenn sie auch noch überwiegend gesungen werden müssen. Dafür sorgte das Quartett der Hauptfiguren: Olga Fedorenko gab eine stimmlich einwandfreie “Sugar”, wenn auch manchmal ihre zierlichen Maße die Monroe vermissen ließen. Dafür brillierte sie mit dem eingeschobenen Song aus dem Originalfilm “I wanna be loved by you” und zeigte, was sie in der Kombination Monroe/Fedorenko Faszinierendes drauf hat. Doch Sugar obliegt weder im Film noch im Musical die Hauptrolle. Diese besetzen Joe/Josephine (Eugen Prudnik), Jerry/Daphne (Arsen Kurbanov) und Osgood Fielding (Nicholas Butkovskiy).
Der kultigen Travestie-Geschichte um zwei Musiker, die von der Mafia gejagt sich als Frauen verkleidet in einer Damenkapelle “durchmusizieren” müssen, sich mal als Mann, mal als Frau verlieben, haben Tony Curtis als Hochstapler und Jack Lemmon als Daphne weltweit ihren Stempel aufgesetzt. Mag man in Kiew anfangs noch ein wenig skeptisch gewesen sein, wenn Intro und Vorspiel das Ihre getan und die Story gesungen und getanzt ihre Lauf nimmt, dann jedoch verfliegen rasch die Zweifel, wenn sich Eugen Prudnik, gestandener Musical-Interpret, in Rock und Perücke schwingt. Diese gekonnte Verwandlung in Josephine und wieder zurück in Joe macht er so smart wie ehedem der Frauenschwarm im Hollywoodfilm. Hier findet sich der Ukrainer wieder, hier dreht er auf, der Darsteller und private Weltmeister im Arm-Wrestling, verdreht “Sugar” und ebenso den anwesenden weiblichen Besuchern den Kopf.
Kann es noch besser werden? Ja es kann, wenn Multitalent Arsen Kurbanov, stimmgewaltig, gesanglich perfekt und ein komödiantisches Ass, als “Daphne” über die Bühne wirbelt. Da bleibt kein Auge trocken. Der Mitzwanziger dominiert den Abend, die Show: sicher ein Großer der Kiew Operette mit Potential nach ganz hoch oben. Er liebt die Rolle, er lässt “Daphne” leben. Erste Vergleiche mit Jack Lemmon verschwinden von Minute zu Minute. Arsen legt sein gesamtes Können in diese eine Vorstellung, mag man meinen. Doch das Publikum kommt mittlerweile, um ihn zu sehen, ein Name, den man sich merken sollte und den man hoffentlich mit dieser Inszenierung im Westen wiedersehen kann!
Doch was ist ein Komödiant ohne einen Counterpart, was ein Kurbanov ohne einen Butkovskiy? Da hatten Strutynskiy/Prokopenko den richtigen Riecher. Im Film kam der US Komiker Joe E. Brown zu Zuge, in Kiew füllt Nicholas Butkovskiy, ein “ewiger Komödiant”, die Pointen, die Pausen und achtet präzise darauf, dass die Gags bloß nicht im Gelächter des Publikums untergehen. Vadim Prokopenko choreografierte für die Beiden einen der schönsten Tangos zweier Kerle, den ich je gesehen habe.
Vor kurzem zählte der deutsche Regisseur Tom Tykwer “Manche mögen’s heiß” zu den zehn stilbildenden Meisterwerken des Films. Er schrieb: “Wahrscheinlich die unverschämteste und zugleich klügste Komödie aller Zeiten. Beginnt als knallharter Gangsterfilm, wandelt sich zur Fummel-Klamotte und kulminiert als revolutionäres Queer-Feuerwerk”. Er muss das Musical in Kiew noch sehen. (Bauer/Rabe)
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