Personalexperte sieht “Notenfetischismus” des Wissenschaftsrates
Wirtschaft kann besser über Qualifikation entscheiden
Die Kritik des Wissenschaftsrates an der steigenden Zahl guter Studienabschlüsse in Deutschland ruft nun Widerspruch in der Wirtschaft hervor. Der Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Wolfgang Marquardt, hatte öffentlich gefordert, dass “der Trend zu besseren Noten” nicht weitergehen dürfe. Der Wiesbadener Personalberater Peter Pressler sieht darin einen “realitätsfernen Notenfetischismus”. Er fordert ein Umdenken in der Bildungspolitik und eine stärkere Orientierung auf die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen.
Nach Ansicht von Peter Pressler geht die akademische Ausbildung in Deutschland seit längerem an den Bedürfnissen der Wirtschaft vorbei. Als Beleg führt er die Studienabbruchquote in Deutschland an. In Deutschland brechen rund ein Viertel aller Studienanfänger ihr Studium wieder ab. Im Fachbereich Mathematik und Naturwissenschaften liegt die Abbruchquote bei 39%, in den ingenieurwissenschaftlichen Bachelor-Studiengängen sogar bei durchschnittlich 48%. “Auf der einen Seite haben wir einen Fachkräfte- und Ingenieurmangel, auf der anderen Seite bricht im Maschinenbau die Hälfte aller Anfänger ihr Studium ab. Die Aufgabe des Bildungssystems muss es aber doch sein, möglichst vielen jungen Menschen möglichst viel Wissen zu vermitteln, und nicht die Interessierten bei erster Gelegenheit abzuwimmeln”, so Pressler. “Es kann wohl niemand als Zufall abtun, dass die kritisierten guten Noten besonders in den Studienfächern vergeben werden, in denen auch die Abbruchquote besonders hoch liegt”, so der Personalexperte. Wer angesichts einer solch übertrieben harten Auslese am Ende übrig bleibe, der müsse zwangsweise gute Noten haben. Auch die missglückte Umsetzung der Bologna-Reformen habe zur negativen Entwicklung beigetragen.
Pressler, der als Vice President der Personalberatung Mercuri Urval in Deutschland tätig ist, sieht in der Forderung des Wissenschaftsrates einen “realitätsfernen Notenfetischismus”. “Noten werden überschätzt. In der Wirtschaft ist man längst weiter und weiß um die Bedeutung von Persönlichkeitsmerkmalen, die in der klassischen Notengebung praktisch nicht abgebildet sind. Wenn man sich in der Praxis umschaut, dann sieht man in vielen Unternehmen auch Menschen in Schlüsselpositionen, die ursprünglich gar keinen Studienabschluss hatten und weit entfernt von den Anforderungen ihrer Aufgabe waren. Sie haben sich diese jedoch in der Praxis angeeignet und ihre Unternehmen so erfolgreich gemacht. Entscheidend dafür sind Kompetenzen, und nicht eingetrichtertes Fachwissen”.
Entsprechend fordert Pressler ein Umdenken in der Bildungspolitik und eine stärkere Orientierung auf die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen. Dazu seien weniger Leistungsdruck im Studium und modernere Lernformen notwendig. Eine übertrieben harte Auslese bei Studiengängen sowie die reine Fixierung auf Noten führen demgegenüber genau in die falsche Richtung. Junge Menschen würden unter einen “formalen Erfüllungsdruck” gestellt, der insbesondere das selbständige Denken untergrabe.
Würde sich das Gremium mit seiner Forderung nach strengeren Noten durchsetzen, so hätten diese in der Wirtschaft irgendwann gar keine Bedeutung mehr. Die Notengebung am Ende des Studiums werde dann zu einem Binnenthema der Hochschullandschaft und anderer staatlicher Rekrutierungsprogramme, ist Pressler überzeugt.
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