“Kein Wunder”, hörte ich einen Neunmalklugen im Zugabteil sagen, “kein Wunder, dass Amsterdam so schön ist. Kunststück, wenn man sich an so malerischen Grachten niederlässt.”
Der Mann irrte gründlich. Amsterdam mit all seinen Grachten ist kein Geschenk der Natur, sondern ein durch und durch künstliches Gebilde.
Um das Jahr 1600 war Amsterdam eine übervölkerte mittelalterliche Kleinstadt, deren Kaufleute und Schiffsherren durch den Handel mit der ganzen Welt reich geworden waren. Daher beschloss der Magistrat, die Stadt nach einem groß angelegten Plan zu erweitern. Bürgermeister, Stadtzimmermeister, Landmesser und Architekt arbeiteten den Plan aus: Frans Oetgens, Henrik Staets, Lucas Sinck und Daniel Stalpaert.
Da die Stadt an einem von der Nordsee aus erreichbaren Hafen liegt, war es der Wunsch der Kaufleute, Handelsgüter, zum Beispiel wertvolle Gewürze, bis vor die eigene Haustür zu Wasser bringen zu können. So ersannen die vier Stadtplaner ein System von drei breiten, halbrunden Grachten, die am Hafen anfangen und enden und von zahlreichen schmäleren, radial angelegten Grachten gekreuzt werden. Die drei großen Grachten erhielten die Namen Herengracht, so genannt wohl nach den mächtigen Kaufherren, Keizersgracht- zu Ehren des Kaisers Maximilian von Österreich – und Prinsengracht- zum Andenken an den Befreier von den Spaniern-. Prinz Wilhelm von Oranien. Dann gab es da noch den Singel, der die mittelalterliche Stadt umgeben hatte. Er sollte eigentlich Koningsgracht genannt werden; aber das setzte sich im Volksmund nicht durch. Die Arbeiten an diesen Grachten begannen 1612 und endeten 1663, sechs Jahre vor dem Tode Rembrandts und seiner Beisetzung in der Westerkerk. Die Planer gingen so weit, auch die natürliche Reinigung der Kanäle durch die Bewegung von Ebbe und Flut mit einzukalkulieren. Heute ist das durch die Zähmung des Meeres unmöglich geworden. Statt dessen werden jede Nacht in sieben Stunden vier Milliarden Liter sauberes Wasser aus dem Ijsselmeer in die Grachten gepumpt und in den Nordseekanal weitergeleitet. Das Wort Grachten kommt übrigens von graben-. Sie wurden durch Graben mit der Schaufel angelegt. Die Gebäude stehen wie die in Venedig auf Pfählen. Im 17. Jahrhundert wurden bereits fünf Millionen eingerammt. Auch die malerischen Häuser an den Grachten haben System. »Reinem« Schönheitssinn verdanken sie nur die vielfältigen Formen der krönenden Giebel. Aber schon die Takelbalken am Giebel mit ihrem Flaschenzug hatten ihren nüchteren Sinn: Transport von Waren in die oberen Speicherräume und von Möbeln in die Wohnräume. Die Breite von acht Metern, ausreichend für den Einbau von drei Fenstern, war vom Magistrat festgelegt, um möglichst vielen Interessenten einen Platz am Wasser zu gewähren. Um den beschränkten Platz anderweitig zu ergänzen, gingen die Häuser bis zu 54 Meter in die Tiefe, und es wurde nicht nur eine ebenso malerische Rückfront, sondern auch ein bis zu 25 Meter langer Garten angelegt.
Dass die Fassaden bis zu fünf Grad nach vorn geneigt waren, erwies sich zwar als ein perspektivischer »Trick« mit verblüffender Wirkung, sollte aber eigentlich nur die Beschädigung der Front bei Betätigung des »Aufzuges« vermeiden helfen –> Reisebericht Niederlande
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