Denkanstöße über Demenz aus dem kleinen gallischen Dorf
(ddp direct) Gespräch mit Reimer Gronemeyer, Professor für Soziologie an der Uni Gießen und Theologe, über sein neustes Buch: „Das 4. Lebensalter. Demenz ist keine Krankheit“. Die Fragen stellte Beate Glinski-Krause vom Frankfurter Forum für Altenpflege (FFA), das Netzwerk der Leitenden der Frankfurter Altenpflegeheime, das 1993 gegründet wurde und mit der Stadt Frankfurt am Main seit 20 Jahren „Kommunale Qualitätsentwicklung in der Pflege“ leistet.
BGK: Herr Gronemeyer, Sie sagen: „Wir leben in einer Aufmerksamkeitsdefizitkultur. Wir sind nicht mehr konzentriert genug bei der Sache.“ Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen unserer Gesellschaft des Vergessens und der altersbedingten Demenz, die keine Krankheit sei, wie Sie sagen?
RG: Egon Friedell, ein österreichischer Literat, hat einmal gesagt: Jede Zeit bringt die Krankheiten hervor, die zu ihr gehört. Ich denke, dass die Demenz ein Phänomen, eine Pathologie ist, die zu uns passt. Vielleicht machen wir uns nicht die Mühe zu gucken, welche krankmachenden Bedingungen in der Gesellschaft eigentlich zu bestimmten Phänomenen führen. Ich denke, bei der Demenz machen wir uns diese Mühe nicht. Wenn man einigermaßen sensibel ist und nachdenkt, dann sieht man ja, dass unsere Gesellschaft eine Gesellschaft des Vergessens ist, eine Gesellschaft, in der man nicht aufmerksam ist. Wir sehen das zuerst bei den Kindern mit diesem berühmten ADHS-Phänomen, wo der Mangel an Aufmerksamkeit für uns alle erkennbar mit dem zusammenhängt, was auf Kinder heute einstürzt und einströmt. Ich denke, wir tun gut daran, über Demenz so nachzudenken, dass wir uns die Frage stellen: Was stürmt eigentlich auf die älter werdenden Menschen ein und macht sie vielleicht verrückt. Es ist wichtig, sich das nicht zu ersparen. Es liegt ja zutage, dass wir in einer Gesellschaft der Beschleunigung und der Innovationsbesessenheit leben. Wir erinnern nichts mehr, weil wir alles auf der Festplatte gespeichert haben. Wir sind eine Gesellschaft der Löschtaste gewissermaßen.
BGK: Wirkt die Demenz wie eine Löschtaste?
RG: Ja, ich will da nicht missverstanden werden. Die Technik bringt uns große Vorteile. Ich kann schnell mit dem IC nach Stuttgart fahren, ich kann nach Rom fliegen. Ich habe ein schnelles Internet und damit lebe ich auch. Aber wir dürfen nicht so tun, als ob das nicht auch seine Folgen hätte. Ich war auf einem Geburtstag. Da waren ein Vierjähriger und ein Sechsjähriger, die die ganze Zeit nur mit ihrem Handy gespielt haben. Sehr kompetent – mit einer Geschwindigkeit und einer Fähigkeit, die ich nie besitzen werde. Aber gleichzeitig stellt sich die Frage: Was sind die Kosten? Was bedeutet das für diese Menschen?
BGK: Ja, was passiert im Hirn?
RG: Ja. Was passiert mit dem Hirn, aber auch mit der Seele, mit der Persönlichkeit. Und ich finde, dass wir uns die Analyse ersparen, wenn wir sagen, das ist eine Krankheit, die gehört in die Ecke.
BGK: Diese Verbindung haben Sie in Ihrem Buch hergestellt: Demenz im Alter und Demenzen oder Verwirrtheitszustände, die durch Burn-out ausgelöst werden und durch ADHS, die Hyperaktivitätsstörung bei Kindern. Sie sagen, dass alle, die derartig gescheitert sind, über ein Heilungspotenzial verfügen.
RG: Im Grunde ist es ja so, dass Menschen mit Demenz uns sehr viel mitteilen, auch wenn sie nicht mehr so sprechen, dass wir sie immer verstehen können. Sie teilen uns etwas mit über den Ort, an dem wir leben. Wie sieht eigentlich die Gesellschaft aus, die wir gemacht haben, sodass wir darin gar nicht mehr richtig vorkommen. Es ist gut, sich klarzumachen, dass nicht die Menschen mit Demenz sich von uns entfernen, sondern die Gesellschaft entfernt sich mit immer größer werdender Geschwindigkeit von allen, die verwirrt sind. Der Begriff Demenz ist ja das Dach über unglaublich unterschiedliche Phänomene. Demenz heißt ohne Verstand und das stimmt ja oft gar nicht. Wir hören von Menschen mit Demenz oft sehr sensible Sichtweisen und ich glaube, wir müssen uns die Mühe machen, genauer hinzuhören, was sie denn eigentlich mitteilen. Die Frau, die ihre Tochter nicht mehr erkennt, aber von ihrem Mann, der vor 15 Jahren gestorben ist, erwartet, dass er gleich durch die Tür tritt, ist die verrück? Hat sie den Verstand verloren? Man könnte auch sagen: Für sie ist die Geschichte mit diesem Mann ganz wichtig, die geht ihr nach. Ihre Tochter ist für sie jetzt nicht mehr so wichtig. Das ist nicht schön für die Tochter, das ist auch nicht schön für die Mutter und für alle Beteiligten. Man macht es sich zu leicht, wenn man sagt, da sind einfach nur ein paar Hirnzellen durcheinander gekommen und deswegen kommt da nur noch Blödsinn raus. Vielleicht verstehen wir die Sprache der Menschen mit Demenz nicht mehr oder nicht immer oder ganz selten. Aber sie haben vielleicht vieles mitzuteilen und das, was diejenigen sagen, die mit Menschen mit Demenz arbeiten, ist, dass die Gefühlswelt, die emotionale Seite geradezu an Stärke gewinnen kann.
BGK: Ja, man sagt sie seien Spezialisten der emotionalen Wahrnehmung. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Demenz etwas sein könnte, das damit zu tun hat, dass die Menschen das Vertrauen in ihr eigenes Denken verloren haben. Haben sie es verloren, weil die Strukturen ihnen dieses Vertrauen nicht mehr geben?
RG: Es lohnt sich einen Blick auf die Lage alter Menschen bei uns zu werfen. Dann kann man das besser verstehen. Alte Menschen sind bei uns finanziell so gut versorgt wie noch nie in der Geschichte Deutschlands. Das ist gut so, aber das wird sich ändern, wie wir wissen. Und gleichzeitig leben diese älter werdenden Menschen in einer Art sozialer Wüste. Sie sind nicht mehr gefragt. In Afrika genießen die alten Menschen Respekt, weil sie wichtig sind. Sie wissen, wann man aussäen muss, sie wissen, welches Saatgut gut ist. Die alten Frauen in Namibia kümmern sich um ihre Enkel, die zu Waisen geworden sind. Der Respekt vor den Alten hat etwas damit zu tun, dass man von ihnen auch etwas erwartet. Ich habe immer so das Gefühl, wenn ich von Frankfurt nach Windhoek fliege, dann dreht sich am Äquator der Begriff Altenhilfe in sein Gegenteil um. Hier ist es, was man für die Alten tut, dort ist es, was man von den Alten erwartet. Was wird von den Alten hierzulande erwartet? Dass sie sich amüsieren, dass sie gesund essen, sich fit halten? Das ist eine Egomanie, auf die sie festgenagelt sind, während sie soziale Rollen eigentlich nicht mehr haben. Dieser Generation von Alten wird andauernd mitgeteilt: Nichts, was du in deinem Leben gelernt hast, spielt noch eine Rolle. Das kannst du alles vergessen. Ich sehe es hier im Büro. In vielen Punkten kann ich mit der Computerkompetenz nicht mithalten. Die Frage ist, wofür sind die Alten eigentlich gut. Wenn eine Gesellschaft ihren Alten unablässig ins Ohr flüstert: Das, was du gelernt hast, ist gar nichts mehr wert, dann muss man sich nicht wundern, dass die Zahl der Menschen, die ihren Verstand an der Garderobe abgeben, zunimmt.
BGK: Sie haben den Philosophen Kierkegaard zitiert, ziemlich am Anfang Ihres Buches. Sie schreiben dort, dass der, der hilft, sich vor dem, dem geholfen wird, verbeugen muss. Und sie gehen noch ein Stück weiter und sagen, ich kann nie sicher wissen, ob das, was ich gebe, auch tatsächlich ankommt. Welche Haltung brauchen wir?
RG: Wir haben es, glaube ich, verlernt, zu helfen. Wir sind es gewohnt, Hilfe an Profis abzugeben. Um Gottes willen, ich würde nie jemanden von den Leuten, die sich kümmern, diskriminieren wollen. Wir müssen uns überlegen, welche Richtung schlagen wir eigentlich ein? Wir sind in einer Gesellschaft, die immer älter wird. Wir sind eine Gesellschaft, der auch ökonomische Krisen bevorstehen und wir sind darauf nicht vorbereitet. Wir tun immer noch so, als wenn dieser Demenzbereich, der Pflegebereich rettungslos wachsen kann. Wir müssten eigentlich wissen, dass das nicht der Fall sein wird. Und dass wir uns Lösungen überlegen sollten, die auch ohne Geld gehen. Ich unterschätze überhaupt nicht die Schwierigkeiten, die damit einhergehen. Das ist ein Bruch, an dem wir stehen. Wir sehen ja, dass das mit der Institutionalisierung der Pflegebedürftigen nicht so weitergehen wird. Das Neue können wir zwar beschreiben, wir können sagen, was wir ungefähr brauchen: Wir brauchen eine wärmende Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der die Menschen wieder bereit sind, sich um Andere zu kümmern auch ohne Geld – in nachbarschaftlicher Bereitschaft. Aber wir können keinen Schalter umlegen, und dann ist es so, sondern das ist ein langer Weg.
BGK: Zumal die Jungen weniger Zeit haben, immer flexibler sein müssen. Sie haben kaum Zeit, Familien zu gründen, finden auch keine Partner mehr.
RG: Das Problem ist die Kurzfristigkeit der Beziehungen. Es ist ein spannender Augenblick, auch einer der zu Hoffnung Anlass gibt, dass man sagt: Wir können so nicht weitermachen. Wir müssen uns gerade mit Blick auf Demenz neue Wege ausdenken. Die fallen nicht vom Himmel. Wir müssen ausprobieren. Wir werden dabei manchmal scheitern und manches wird gelingen.
BGK: Die Auflösung von Lebenszusammenhängen, die Orientierung und Sicherheit geben, ist weit vorangeschritten. Das Systemdenken hat alle Bereiche des Lebens erfasst. Sie beschreiben die Situation, dass viele Menschen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat fliehen mussten. Diese Genration schleppt ein Trauma mit sich, das nie richtig bearbeitet wurde. Sie haben sich darüber ein Bewusstsein erarbeitet. Was ist Ihre Antwort auf die Auflösung der Lebenszusammenhänge?
RG: Etwas platt gesagt: Wir brauchen einen zivilgesellschaftlichen Aufbruch. Wir müssen uns wiederentdecken als Nachbarn. Das ist natürlich im ländlichen Bereich und städtischen Bereich unterschiedlich. Ich glaube aber nicht, dass es im ländlichen Bereich leichter ist. Was ich höre, ist, dass manchmal die Familien auf dem Land noch etwas intakter zu sein scheinen, während in der Großstadt der Single zur Grundfigur geworden ist.
BGK: Ja, über 50 Prozent der Frankfurter leben allein, und davon sind ungefähr die Hälfte über 65 Jahre. Manche von diesen verlassen ihre Wohnung im 3. Stock nur noch selten.
RG: Ja, und dann finde ich den Ausdruck „zu Hause sterben“ ganz absurd. Wenn man allein im 3. Stock in seinem Apartment sitzt und vor sich hin stirbt, zweimal am Tag kommt irgendein Pflegedienst, wenn er so oft kommt. Das hat doch nichts mit zu Hause sterben zu tun. Zu Hause sterben heißt doch, da zu sterben, wo Freunde sind, oder die Familie.
BGK: Wie bekommt man die Zusammenhänge einer Großfamilie wieder hin?
RG: Zur Großfamilie werden wir nicht zurückgehen, das ist unwahrscheinlich. Was jetzt in Griechenland passiert, dass viele der jungen Leute aus den Städten zu ihren Familien aufs Land ziehen, das ist natürlich eine erzwungene Rückkehr, ihnen bleibt gar nichts anderes übrig. Wir müssen mehr nach vorne sehen und nach neuen Modellen des Zusammenlebens Ausschau halten. Ich kenne so viele Leute zwischen 50 und 60, die wissen: Wir werden allein sein, wenn uns nichts einfällt.
BGK: Und darüber werden sie depressiv.
RG: Genau: Es ist ganz klar, wir müssen etwas anderes zustande bringen und das kommt nicht von oben, das kommt nicht von irgendeiner Agenda 2020 …
BGK: … sondern nur von unten. Demokratie von unten.
RG: Ja, das kann nur von unten kommen. Das wird noch einmal eine ganz große Herausforderung. Es wird zwar viel von der Agenda 2020 geredet, was wir aber brauchen, ist eine Basisagenda. Und ich glaube, wir haben auch die Chance dazu. Aber wir haben natürlich auch Strukturen, die es schwierig machen. Wenn Sie an Röttgen denken, das war ein ehemaliges Dorf, das jetzt zu Bonn gehört. Da haben in den 60er, 70er Jahren junge Familien ihre Häuser gekauft. Die Kinder sind weg. Die Eltern, soweit sie noch zusammen sind, leben in diesen Einfamilienhäusern und wissen, dass sie eigentlich andere Lebensmodelle brauchen, aber die Architektur gibt es gar nicht ohne Weiteres her. Wir sind in einer Sackgasse gelandet, mit einem bestimmten Familienmodell, das sich architektonisch realisiert hat, und das jetzt gar nicht mehr existiert.
BGK: Das ist auch für die jetzige Generation noch so: Die Betonhäuschen der Neubauviertel sind in Lego-Bauweise, wie Sie so schön sagen, erbaut. Und jeder, der so ein Haus besitzt, sieht den anderen Hausbesitzer als Konkurrenten.
RG: Nachbarschaftsprozesse sind die häufigsten sozialen Prozesse in Deutschland. Das ist etwas, das einen sehr skeptisch machen kann, weil es mit der Nachbarschaft so schwer funktioniert. Es funktioniert natürlich so schwer, weil jeder auf sein Rasenstück bedacht ist und wenn der Nachbar Unkraut hat! Das sind die berühmten Geschichten. Wir müssen uns davon befreien. Wir brauchen einen großen Befreiungsprozess. Sie haben vorhin gesagt, meine Generation hat unter der Kriegs- und Nachkriegszeit gelitten und hat das nie bearbeitet. Was aber jetzt dran ist, ist der individualistische Besitz. Die Frage ist, was eigentlich nach der Familie kommt. Wir brauchen ja so etwas wie die Familie für die Kinder, wir brauchen sie auch für die Alten. Aber es wird nicht die Familie sein, die wir jetzt haben, es muss irgendetwas anderes kommen. Im Lateinischen, woher der Begriff familia stammt, war das die Gemeinschaft aller Sklaven. Das hatte nicht unbedingt etwas mit Blutsverwandtschaft zu tun. Wir brauchen die familia als eine große, wärmende Gemeinschaft irgendwie wieder. Wir wissen, dass wir sie brauchen, aber sie umzusetzen ist ein schwieriger Punkt.
BGK: Wir müssen uns von unserem Theorie- und Wissenschaftsglauben verabschieden. Im 4. Lebensalter sprechen Sie von einer neuen Philosophie. Was stellt z B. die Phänomenologie den naturwissenschaftlich orientierten Ansätzen entgegen?
RG: Ich denke, es geht erst einmal darum, die Bereitschaft zu stärken, nachzudenken und sensibilisiert zu werden. Wir müssen aus der Einfamilienidylle raus. Die Menschen erfahren, dass das nicht mehr funktioniert, das kann man an der Zahl der Ehescheidungen und der Patchwork-Familien sehen. Es muss darüber nachgedacht werden, was das eigentlich heißt und welche Folgen daraus entstehen, was das Neue ist, das wir brauchen. Es wird im Moment überall von fehlender Gemeinschaft geredet. Es ist gut, dass das geschieht. Man macht nicht nur die Tür auf und ist dann im Paradies einer neuen Gemeinschaftlichkeit, sondern man muss das üben. Ich denke, dass wir Mühen vor uns haben, dass wir ganz viel ausprobieren müssen, was geht, und was auch nicht geht, ohne auf Profis zurückzugreifen.
BGK: Zumal die Profis in der Pflege weniger werden. Und die wenigen müssen immer mehr leisten. Die Rehabilitationskliniken sind voll von Leuten mit Burn-out-Syndrom.
RG: Warum explodieren diese Phänomene so? Das hat auch etwas damit zu tun, dass wir von der Disziplinargesellschaft zur Leistungsgesellschaft übergegangen sind, in der unablässig jeder mit allen seinen Kräften gefordert ist. Die Zahl derer, die das irgendwann einmal nicht mehr aushalten, wächst naturgemäß.
BGK: Und innerhalb dieser Strukturen vereinsamen die Leute über diesen Anforderungen. Das gilt auch für Leitungspersonal, das gleichermaßen darunter leidet. Daher ist gute Führung immer weniger möglich.
RG: Und deswegen meine ich auch, dass es sinnvoll ist, sich einmal die Frage zu stellen, ob Demenz nicht so etwas wie ein Alters-Burn-out ist, wo die Leute sagen: Ich kann das alles nicht mehr. Wir fragen überhaupt nicht danach, woher das, was wir als Störungen wahrnehmen, eigentlich kommt, sondern wir schicken die alten Menschen in die Behandlung und dann gibt es eine Demenzdiagnose und man darf unglücklich sein.
BGK: Die Strukturen und die Technik sind perfekt, schreiben Sie in Ihrem Buch, aber die Sinnhaftigkeit geht dabei immer mehr verloren. Mir hat die Gewaltigkeit des Problems, das Sie so handfest in ihrem Buch beschreiben, Herzschmerzen verursacht.
RG: Mich hat ein Buch noch nie so erschöpft, wie dieses. Ich bin ein halbes Jahr, nachdem ich fertig war, richtig kaputt gewesen. Das war Schwerstarbeit und ich habe alles gegeben. Aber das war gut, dass ich mich da richtig reinvertieft habe, denn hin und wieder sieht man einen kleinen Lichtspalt.
BGK: Das letzte Kapitel Ihres Buches fasst die Problematik noch einmal zusammen, ich habe es mitten im Lesen vorgezogen. Der Überblick war hilfreich für die restliche Lektüre. Ich hatte das Glück ins Frankfurter Forum zu kommen, bevor die Pflegeversicherung eingeführt wurde. Damals war die Kommune noch völlig für die Altenhilfe verantwortlich. Und dann hat man die Pflegekassen – und das kritisieren Sie ja auch in Ihrem Buch – zu Hütern über die hoheitlichen Aufgaben der Kommune gemacht. Aber die Pflegekassen sind Unternehmen und die ticken anders, sie sind nicht im gleichen Maße wie die Kommunen, dem Gemeinwohl verpflichtet.
RG: Völlig richtig. Man hat den Eindruck, die Geschichte mit der Pflegeversicherung ist wie mit der Privatisierung des Wassers. Es ist ja gut gemeint gewesen, aber nicht nachgedacht. Die Pflegeversicherung hat zur Vergeldlichung der Pflege geführt. Das hat seine Gründe darin, dass die Frauen durch Berufstätigkeit und die geografische Mobilität einfach nicht mehr zur Verfügung standen und stehen. Wir haben noch die Situation, dass Pflege zu 80 Prozent zu Hause erbracht wird. Aber das wird in 10 Jahren nicht mehr so sein. Jedenfalls in diesem Modell so nicht. Aber wo soll das hin?
BGK: Die Pflegeversicherung hat 1995 auch die Betreuung von Menschen mit Demenz nicht mehr im Leistungskatalog vorgesehen, was vorher in Hessen noch enthalten war. Das hat in Frankfurt, weil es das Forum für Altenpflege schon gab, zu erfolgreichen Protesten geführt. Wir erleben heute ein Pflegesystem, das durch die Reduktion an Personal und damit an Zeit unterversorgt und zugleich kostspielig ist.
RG: Da stimme ich Ihnen zu.
BGK: Zu einem anderen Thema: Was bedeutet Inklusion für Menschen mit Demenz, wenn Sie so wollen auch für diejenigen, die an ADHS leiden?
RG: Ich meine, der Begriff der Inklusion verheißt ja erst einmal etwas Gutes. Wer wollte dem widersprechen, denn niemand will die Behinderten oder die Drogensüchtigen draußen haben. Mein Misstrauen gegenüber dem Begriff der Inklusion bezieht sich auf zwei Dinge. Das eine ist, dass ich den Verdacht habe, der Begriff Inklusion wird de facto als Sparmaßnahme benutzt. Lehrer sagen: Wir kriegen jetzt schwer gestörte Kinder in unsere Klasse. Das heißt dann Inklusion, aber wir bekommen keine Hilfe. Da lässt sich leicht von Inklusion reden, wenn man die Folgen nicht trägt. Und dann habe ich den Verdacht, es könnte damit eine Systemgleichschaltung gemeint sein. Nicht mehr Gesellschaft, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und auch wenn du nur ein Bein hast, gehörst du zu uns. Das wärmende, aufnehmende, gastliche Element verschwindet zugunsten einer administrativen Eingliederung.
BGK: Sie schreiben, dass die Technisierung ein System erschafft, das den Menschen zum Funktionsmechanismus degradiert.
RG: So denke ich, ist es. Mit dem Begriff Inklusion ist etwas Gutes gemeint, aber ich frage mich, ob die Umsetzung nicht etwas hervorbringt, was wir gerade nicht wollen. Wir brauchen nicht die Einschließung, das heißt ja Inklusion.
BGK: Inklusion ist ein Begriff aus der Kristallografie. Das ist auch die Fliege im Bernstein, die ist auch inkludiert, sie kann sich nicht mehr bewegen.
RG: Ein sehr schönes Bild. Aber das, was wir eigentlich brauchen, ist die wärmende Gastfreundschaft. Die gibt es nicht. Ich muss immer an die Inklusen denken, die es in der frühen Kirche gegeben hat. Das waren Menschen, die sich in der Stadt haben einmauern lassen. Und sie sind heiliggesprochen worden. Sie wurden eingemauert, die Totenmesse wurde gefeiert. Das ist eigentlich der radikalisierte Single, mit dem wir heute in Frankfurt umgehen, der eigentlich auch ein Eingeschlossener ist. Auch wenn jetzt dieser Begriff der Inklusion ganz von oben von der Behindertenkonvention kommt, muss man auch mal wagen zu widersprechen. Der Begriff Inklusion setzt sich durch, er hat sich schon durchgesetzt, er wird sich durchsetzen. Aber gerade deswegen muss man als Bewohner des kleinen gallischen Dorfes doch mal ein Nein, nicht mit mir, sagen können.
BGK: Die kleinen gallischen Dörfer sind auch die überschaubaren Quartiere der Großstädte. Die Goethe-Universität hat eine Quartiersuntersuchung vorgelegt, die zum Teil Selbstverständliches eruiert hat. Dass ein alter Mensch, der lange in einem dörflichen Stadtteil wie Schwanheim (Frankfurt) lebt und in die Nachbarschaft eingebunden ist, seine Gebrechen leichter ertragen wird, als jemand, der auf den Besuch des Pflegedienstes angewiesen ist und sonst keinen Nachbarn kennt, ist ein Erfahrungswert. Solch lebensweltlich ausgerichteten Studien sind für Pflegeheime wichtig, um sich – gegen überbordende Bürokratie – für mehr Lebenszusammenhang öffnen zu können.
RG: Wir haben an der Gießener Universität eine Studie über palliative Versorgung in Hessen gemacht. Wir haben alle befragt: Betroffene, Angehörige, Krankenschwestern. Und was ist dabei rausgekommen? Am wichtigsten ist am Lebensende Zeit, Dasein, Zuwendung. Und das wird im Alltag in der Pflege immer schwerer möglich. Und zwar nicht, weil die Pflegenden so böse sind, sondern weil sie es einfach nicht können. Da kommt dann auch noch die sicher berechtigte Klage über immer mehr Dokumentationszwänge hinzu.
BGK: Gigantomanisch.
RG: Gigantomanisch und eigentlich kann man sich da nur subversiv verhalten.
BGK: Die Dokumentation bildet etwas ab, was in der Form und in dem Umfang mit dem Personal nicht leistbar ist. Ich halte das für ein Verwirrungsinstrument. Es verwirrt total die wirklichen Zusammenhänge. Das ist eine bürokratische gesteuerte Verwirrung, die die verwirrt, die diese Arbeit zu leisten haben.
RG: Ich stelle mir dabei immer einen durchgegangenen Gaul vor, so hat es eigentlich niemand gewollt. Und jetzt sind wir an einem Punkt, an dem es einfach nicht mehr geht, trotzdem wird noch ganz gut verdient dabei. Es gibt eben durchaus auch ökonomische Interessen, die das Ding so in diese Richtung treiben. Das habe ich auch ins Buch aufgenommen, ein Immobilienverband, der sagt, die beste Investition heute ist die Pflegeimmobilie.
BGK: Genau. Frankfurt gehört zu den wenigen Städten Deutschlands, die noch einen Zuwachs an Bevölkerung haben und ich glaube, wir sind auch eine Stadt, in der zuhauf Pflegeimmobilien gebaut werden. Sei es jetzt betreutes Wohnen, seien es Pflegeheime. Was ist das für eine Struktur, die man da politisch gewollt hat?
RG: Ich meine, man kann sehen, dass das so nicht geht. Man kann das Problem nicht lösen, indem man Pflegefälle exportiert, man kann das Problem nicht lösen, indem man Pflegekräfte importiert. Aber in diese Richtung geht es im Moment. Es geht in die falsche Richtung.
BGK: Das bedeutet doch, dass die Politiker aus einem System heraus agieren, in dem sie keine basisorientierten Entscheidungen mehr treffen. Man denkt zwar und diskutiert schön, die Debatte ist ja wichtig, aber wie es dann letzten Endes funktioniert, ist nicht Ziel des Handelns. Warum erzeugt die Pflegeindustrie, wie Sie im Buch darlege, Pflegebedürftigkeit?
RG: Halb ironische Antwort darauf: Ich kenne so viele alte Frauen in Afrika, die 10, 15 ihrer Enkel versorgen, die Waisen geworden sind. Diese Frauen haben einfach keine Zeit pflegebedürftig zu werden. Wir hingegen können uns alle vorstellen, dass wir hilfsbedürftig werden und nicht mehr laufen können. Manchmal frage ich mich: Welche allgemeine Entwicklung bringt eigentlich so etwas hervor? Einmal davon abgesehen, dass die Pflegeindustrie daran ein Interesse hat, dass die Zahl der Klienten größer wird. Bemühen wir uns eigentlich darum, die Leute aus den Pflegebetten auch wieder rauszukriegen? Gibt es da Chancen? Würde sich nicht mancher Gang ins Pflegeheim auch erübrigen, wenn es eine Aufnahme beispielsweise in Wohngemeinschaften gäbe? Eine meiner Kolleginnen arbeitet an einem Projekt für das Sozialministerium: Entlassung in die Lücke. Was passiert mit Menschen mit Demenz, wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen werden – durchaus ein dramatischer Akt, wo dann oft das Pflegeheim der einzige Weg zu sein scheint. Aber es gäbe auch andere Wege.
BGK: Die meisten Menschen, die aus dem Krankenhaus als pflegebedürftig entlassen werden, kommen ins Pflegeheim, weil die Alternativen fehlen.
RG: Das heißt, wir müssen über Alternativen nachdenken.
BGK: Sie haben auch die Themen Pflegeoase und Demenz im Pflegeheim angesprochen. In Frankfurt arbeiten einige Altenpflegeheime nach dem Böhm-Modell und richten die Zimmer mit alten Möbeln ein, damit ihre Bewohner sich auf Lebenszusammenhänge konzentrieren können, an die sie sich noch erinnern. Das ist vielleicht zunächst einmal nicht schlecht, um wieder zur Ruhe zu kommen.
RG: Ja, was wir uns alles einfallen lassen, um das wirkliche Problem nicht zu sehen. Immer stellen wir das Instrumentelle in den Vordergrund. Lass uns ein neues Instrument zum Umgang mit Demenz ausdenken. Und Lebensqualität sagt man, wenn man von Würde nicht mehr reden will. Lebensqualität ist etwas Messbares. Es gilt nur das Messbare.
BGK: Wodurch dem Menschen das Existenzielle verloren geht. Sie haben ja auch stark auf das Spirituelle Bezug genommen. Ich denke an das Ein- und Ausatmen im Buddhismus. Sie sagen, man muss herausfinden, wann der Zeitpunkt des Todes da ist. Das ist ein Einwand gegen die Gerätemedizin.
RG: Ich würde auch für mich sagen, ich möchte kein Leben in der Pflegeoase. Aber gleichzeitig ist der Satz nicht umkehrbar. Man kann nicht sagen, schaltet die Leute von den Geräten ab.
BGK: Sie sprechen von der Avantgarde der Menschen mit Demenz, einer nicht anerkannten bzw. unbewussten Avantgarde.
RG: Eine, die gewissermaßen das vorlebt, was wir alle im Begriff sind zu leben. Das Thema Demenz ist ein Schlüssel zum Verständnis unserer Gegenwart. Das Phänomen Demenz bringt uns unglaublich dicht an das heran, was wir sind und was wir leben.
BGK: Kein Autor, von denen, die ich gelesen habe, hat das so auf den Punkt gebracht und so konkret gemacht.
RG: Das rechtfertigt das Buch. Es ist eine Sisyphusarbeit, den Stein raufzurollen, er fällt einem immer wieder auf die eigenen Füße, rollt immer wieder runter.
BGK: Warum brauchen wir eine Neuerfindung der Gesellschaft?
RG: Wir brauchen sie für uns alle. Wir brauchen keine Teilneuerfindung für die Menschen mit Demenz. Das Grundgefühl der Menschen heute scheint ja das der drohenden Einsamkeit zu sein. Nichts hält mehr, keine Beziehungen halten wirklich lange, alles zerfällt. Und wenn man Kinder, Erwachsene oder Alte anschaut, dann haben wir das Gefühl, dass die Fülle der Güter und des Konsums es nicht ist. Dass man vom Einkauf bei H&M nicht glücklicher wird, dass weiß eigentlich jeder, das ist ein Glück des Augenblicks. Das kann auch mal ganz schön sein, ich will das nicht diskriminieren. Aber dieses Grundschmerzgefühl, das möchten wir eigentlich in wärmenden Beziehungen leben, von denen wir noch nicht so genau wissen, wie sie aussehen sollen. Das ist schwieriger geworden – noch einmal im Vergleich zu Afrika -, weil wir so hochgradig hysterische Individualisten geworden sind, die keine Konzessionen machen können. Das ist aber die Voraussetzung für ein gemeinschaftliches Leben. Wenn man als Single lebt, braucht man keine Konzessionen zu machen, wenn man mit Anderen zusammenlebt, muss man deren Macken ertragen und umgekehrt. Man muss ertragen können, dass der eine ordnungsorientierter ist, der Andere ist lauter, der Dritte sagt überhaupt nichts, der eine kocht, der andere kann es nicht, aber das ist doch die Fülle des Lebens. Nur wenn wir die Unterschiede wiederentdecken als etwas Schönes, können wir leben.
BGK: Ja, dahin muss es gehen.
RG: Das finde ich auch. Dahin wird es auch gehen, ich bin da ganz optimistisch, dass es dahin gehen wird, weil es sonst gar nicht geht.
BGK: Herzlichen Dank für das Gespräch
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