Bewachte Grenzen – Jan Hendrik Pelz

Bewachte Grenzen – Jan Hendrik Pelz

Bewachte Grenzen

Picasso, Matisse, Cézanne. Kirchner hat man verpasst. Dafür die Beckmann-Retrospektive zwei Monate später an einem Mittwoch Nachmittag, weil es da Museumsrabatt gibt. In der Aufbauphase der Sonderausstellungen, wenn die Hälfte der Museumsräume geschlossen ist, bleiben ja noch die Sammlungen. Da ist der Eintrittspreis auch günstiger. Die Damen von Avignon, hier ein blaues Pferd, ein Kirchner-Selbstportrait. Man würde sich nicht erlauben, zu gähnen vor solchen Meisterwerken. Nur der etwas matte Blick, den ich nicht nur an mir selbst bemerke und zu unterdrücken versuche, sondern der auch den anderen Besuchern anhaftet, die langsam durch die heiligen Hallen der Museumstempel schlendern, verrät, dass es nicht nur mir so geht. Sind Picasso oder Kirchner langweilig? Mitnichten. Sind ihre Werke nicht sehenswert? Doch, das sind sie. Was ist dann das Problem?

Letztendlich ist das Problem die Angst der Museumskuratoren bei der Planung der nächsten Ausstellung. Die Furcht vor der Kunst-Blamage. Das Zittern der Hüter der Kunstgeschichte, das Schwitzen in schlaflosen Kuratorennächten. (Martin Kippenberger hätte aus den letzten Zeilen sicherlich Bildtitel gemacht.) Fakt ist: Es gibt eine feste Umschreibung des Begriffs der „Moderne“ in der Bildenden Kunst. Man stelle sich diese Moderne wie ein Bündnis von Ländern vor: Picasso steht für Spanien, Dix für Deutschland, Hodler für die Schweiz und so fort. Dieser Vergleich mag zwar an Plattheit nicht zu überbieten sein, doch er hilft uns an dieser Stelle, das Ganze zu verdeutlichen. (Und Kippenberger würde er bestimmt auch gefallen.) Dieses Länderbündnis kann auf eine lange und solide Geschichte des Wohlstands zurückblicken; Die einzelnen Staaten sind auf einem festen Fundament aus kulturellem Hoheitsanspruch und monumentaler Standhaftigkeit erbaut. Gemeinsam besitzen sie den Rang einer Weltmacht. Die Grenzen der Staaten sind klar umrissen und gesichert, Einfluss von Außen wird nur in seltensten Fällen geduldet. Man nehme einen Atlas und betrachte die Länder, die in Bezug auf dieses Bündnis aufgelistet sind. Dann wähle man eines oder mehrere aus und präsentiere die Sehenswürdigkeiten dieser Staaten in einer Schau. So kann man sich die Aufgabe eines Kurators vorstellen, der eine Ausstellung zur Moderne plant.

Selbstverständlich wird von Außen mit allen Mitteln und Möglichkeiten versucht, die abgesicherten Grenzen dieses modernen „Garten Eden“ zu überwinden, um an den Genüssen und Privilegien dieses Super-Staats teilzuhaben. Aber ganz so einfach ist es nicht, denn die Grenzsoldaten schießen mitunter scharf.

In jener Zeitperiode, die heute salopp „Die Moderne“ genannt wird, arbeiteten tausende und abertausende Künstler und Künstlerinnen tagtäglich in ihren Ateliers und Studios an Kunstwerken, und das weltweit. Die allgemeingültige Definition jedoch– schlagen sie es im Lexikon nach, falls sie sich nicht mehr an den Schulunterricht erinnern- begrenzt sich auf einige wenige Künstler meist männlichen Geschlechts, gebürtig in Europa oder in Amerika. So weit so schlecht; Bis hierhin ist die Geschichte bekannt und wird stillschweigend akzeptiert.

Was aber geschieht, wenn ein Flüchtling die stacheldrahtgesäumten Zäune übersteigt und sich mutig und trotzig vor den Herrschenden des Territoriums aufbaut und fordert, hieran Teil zu haben? Behauptet, in all den Jahren, in denen die Moderne erbaut wurde, daran mitgearbeitet zu haben, großartige Gebäude zu verantworten hätte, einen Beitrag geleistet zu haben, der definitiv wegweisend war? Jedoch schlichtweg vergessen oder übersehen wurde. Und dann Beweise vorlegen kann, die derart aussagekräftig sind, dass selbst noch ein Blinder erkennen müsste, dass er die Wahrheit spricht?

Die Antwort ist simpel: Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde man ihn zu allererst auslachen. Ihm misstrauen. Ihm die Qualität, trotz ihrer augenscheinlichen Wahrhaftigkeit absprechen. Ihn dann festnehmen und schließlich in einer Nacht-und -Nebel-Aktion abschieben. Zurück in die Versenkung, wo er herkam. Danke für den Besuch und auf Nimmerwiedersehen.

Denn: Warum sollte man ihn oder sie in all den Jahren übersehen haben? Warum taucht er gerade jetzt auf? Wo war er bisher? Und wer soll der Erste sein, der den Zutritt gewährleistet, auf die Gefahr hin, von den anderen dafür bestraft zu werden? Wer kann dies überhaupt entscheiden? Und warum sollte der Eine, in Anbetracht der Abertausenden, die an den Grenzen stehen, ein Anrecht auf Beteiligung haben?

Dann doch lieber auf der sicheren Seite bleiben und Picasso zeigen. Oder eben Beckmann. Da weiß man, was man hat. Und wir, die treuen Besucher, können uns beim Museumsbesuch immer wieder selbst bestätigen, dass es um unsere Allgemeinbildung nicht so schlecht bestellt ist: Die bunten Blumensträuße sind von Nolde, das habe ich sofort erkannt! Doch insgeheim sehnen wir uns nach dem Neuen, dem Aufregenden, Erfrischenden. Wer hat sich nicht schon mal dabei ertappt, sich im Museum still und heimlich die Frage zu stellen: Und was haben eigentlich all die anderen Künstler und Künstlerinnen, die nicht hier zu sehen sind, so gemacht als Franz Marc 1911 sein „Blaues Pferd“ malte? Ist die Moderne wirklich so schmal bestellt? Gab es damals tatsächlich nur ein paar wenige Männer, die gute Kunst gemacht haben? Man erahnt die wunderbaren Werke, die wir niemals zu Gesicht bekommen werden, die weltweit in Hinterzimmern und Kellern verschimmeln; Man kann sie sich vorstellen, jene Herrschaften, die den nötigen Einfluss hätten, mutig aufzustehen und diese Werke als vergessenen, jedoch wichtigen Teil der Moderne öffentlich zugänglich zu machen – es aber aus Feigheit oder Bequemlichkeit nicht tun. Aber nicht nur den Kuratoren, Museumsdirektoren und ihren Untergebenen muss an den Ohrläppchen gezogen werden, wir müssen uns auch selbst an der Nase fassen: Schließlich wollen wir uns ja bestätigt sehen in unserer Vorstellung, die wir von der Moderne haben. Einmal beschriebene Hirnpartien kann man bekanntlich nicht so einfach überschreiben. Und es fühlt sich zugegebenermaßen ja auch gut an, durch die Museen zu schlendern, wissend zu nicken, und sich selbst immer wieder die eigene Vorstellung sowie das gute alte Bild der Moderne zu bestätigen, das man damals in der Schule vermittelt bekommen hat und seitdem zu einer imaginären Festung ausgebaut hat.

In den letzten Jahren scheint sich dennoch etwas zu tun. Immer wieder machen sich Debatten frei, die darauf abzielen, an den mächtigen Mauern der Trutzburg „Moderne“ zu kratzen. Okwui Enwezor, Direktor im Haus der Kunst München beispielsweise, der 2016 mit seiner XXL-Ausstellung „Postwar“ ansatzweise versuchte, das allgemeingültige Bild der Moderne umzuschreiben oder zumindest zu erweitern. Zwar kann man diesen Ansatz und jenes Vorhaben nur loben und Enwezor wird in absehbarer Zukunft diesbezüglich sicherlich als Pionier gelten. Trotzdem stellt sich die Frage, wie die Ausstellung ausgesehen hätte, wenn der Kurator jene vergessenen und wichtigen Künstler vor der eigenen Haustüre eingesammelt hätte, anstatt in einen subjektiv geprägten Exotismus abzuschweifen. Denn der ist zwar zugegebenermaßen spannend, trägt aber dazu bei, dass das Projekt an der Größe des Vorhabens scheitert, da die Auswahl durch die Masse an möglichen Werken willkürlich wirkt.

Einen Versuch in diese Richtung startet nun der junge Kurator Julian Denzler, der seit Angang des Jahres das Ausstellungsprogramm des Kunstverein Friedrichshafen gestaltet. Genau jene weiter oben beschriebene Misere treibt ihn um, seit sich vor zwei Jahren ein alter Bekannter meldete, um ihm von einem wunderbaren Fund zu berichten. Massenweise Bilder, Ölgemälde um genauer zu sein, lägen da in seinem Keller. Gut sähen sie aus, toll gemalt, aber da er ja nicht vom Fach sei, könne er nichts dazu sagen. Er wisse nur, dass die von seinem Urgroßvater seien, der war Maler, und ein guter Freund war er, von diesem „Dax“. Nein „Dix“ heißt er, genau, Otto Dix. Da schellten bei Denzler die Alarmglocken: Ein „Ländername“ wurde genannt. Und wer hat sich da scheinbar an den deutschen Grenzen herumgetrieben? Das musste er als Kurator und Kunsthistoriker natürlich genauer unter die Lupe nehmen.

Der Kellerfund hatte es in sich: Über 200 Gemälde, Zeichnungen und Skizzen des Malers Jan Hendrik Pelz (1884-1984) lagerten da vergessen in morschen Holzkisten. Der Künstler darf laut Denzler genau als jener armer Tropf gelten, der einen wichtigen Beitrag dazu geleistet hat, den Großstaat Moderne zu errichten und dann- wahrscheinlich als Folgeerscheinung der Kriegswirren und der Nachkriegszeit- das Los des Vergessenwerdens gezogen hat. Denn seine Werke und seine Lebensgeschichte sind der spannendste Stoff, den man derzeit im Kunstbetrieb bekommen kann, meint Denzler. Pelz wurde 1884 in Bernhausen in Baden-Württemberg geboren und besuchte die Königliche Akademie der bildenden Künste Stuttgart, um sich bei Leopold von Kalckreuth ausbilden zu lassen. Schon früh war er mit Werken in wichtigen Ausstellungen vertreten. Nach dem Ersten Weltkrieg, in dessen Schützengräben Pelz bei Verdun verwundet wurde, machte der Künstler in den goldenen Zwanzigern als Maler Karriere. Seine Werke wurden unter anderen in der „Großen Berliner Kunstausstellung“ oder der „Münchner Jahresausstellung“, die im Münchner Glaspalast stattfand, gezeigt. In den dreissiger Jahren wurde Pelz, der als überzeugter Pazifist den Nationalsozialisten kritisch gegenüberstand, zunehmend unter Druck gesetzt, da ein drohendes Arbeitsverbot das Aus für den Maler bedeutet hätte. Im Zuge dieser Entwicklungen zog Pelz nach Gaienhofen an den Bodensee, um dort im selbstgewählten Exil Künstler wie Otto Dix oder Erich Heckel kennenzulernen. Schnell freundete er sich mit den „Höri-Künstlern“, wie sich die Gruppe dort selbst nannte, an und ließ sich durch die vielfältigen Kontakte inspirieren. Nach dem Krieg und einem Atelierbrand 1944, bei dem große Teile seines Werks zerstört wurden, zog der traumatisierte Maler zurück nach Stuttgart. In einer langen Phase der Depression malte Pelz über einige Jahre hinweg kein einziges Bild – um dann plötzlich wieder tätig zu werden und wie aus dem Nichts einen vollkommen neuen Stil zu entwickeln. Nun verschwammen die Figuren auf der Leinwand zu Farbflecken, verloren ihre Konturen oder lösten sich auf, wobei der Maler es verstand, auf spannende Weise Knotenpunkte und Zentren zu entwerfen, die den Blick gefangen nehmen. Doch er konnte in der wirren Nachkriegszeit nicht mehr an den ehemaligen Erfolg anknüpfen und verbitterte zunehmend, wie sich den vollständig erhaltenen Tagebüchern entnehmen lässt. Ende der Fünfziger Jahre konnte sich Pelz die steigenden Mietpreise in Stuttgart nicht mehr leisten und zog ins ländliche Rudersberg-Zumhof. Dort lebte er zurückgezogen in einem alten Bauernhaus und verbrachte die letzten zwanzig Jahre ohne zu malen: Die Kunst habe er, laut Tagebuch, „geohrfeigt – aufgeknüpft – und begraben“ (02. Februar 1965). Doch seine Passion galt im hohen Alter ganz der Schweinezucht, die er laut Nachbarn und Dorfbewohnern mit einer derartigen Hingabe betrieb, dass er nur noch der „Irre Schweinemaler“ genannt wurde. Notiz vom 5. März 1973: „Ich weiß, dass man mich seltsam ansieht und hinter meinem Rücken mehr über mich zu wissen meint, als ich selbst über mich! Was kümmert´s mich?“

Die Werke von Pelz sind gerade deshalb so spannend, weil sie einen andersartigen Künstler-Blick auf die Welt aus einer Zeitepoche zeigen, die wir vollständig zu kennen meinten. Hier lässt sich die Moderne wirklich neu entdecken, hier versteht man bildhaft, dass auch Künstler und Künstlerinnen, deren Namen man noch nie zuvor gehört hat, es wert sein können, gesehen und verstanden zu werden. Und dass der Mut, gerade solch unentdeckten und vergessenen Werke wieder zu entdecken, eine große Lust bereitet. Julian Denzler leistet mit seiner Ausstellung „Jan Hendrik Pelz. Werkübersicht.“ einen großen Beitrag zu einer Debatte, die gerade erst begonnen hat und und schon jetzt ihre Schatten vorauswirft auf eine Zukunft, in der – so hoffen wir – noch viele Vergessene die Mauern der „Festung Moderne“ übersteigen und uns eines Besseren belehren werden.

Jan Hendrik Pelz. Werkübersicht.

16.9.-10.11.2017

Kunstverein Friedrichshafen e.V.

Buchhornplatz 6, 88045 Friedrichshafen

Öffnungszeiten:
Mi, Do, Fr 15 bis 19 h
Sa, So, Feiertage 11 bis 17 h
Für Schulklassen und Gruppen auch nach Vereinbarung

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